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Zeugnisse einer stillen Visionärin

Einführungstext

Die genaue Inspektion des Filmmaterials, Kader für Kader – das Einnehmen eines haptischen Blickes, der vormals nur der Filmemacherin selbst vorbehalten war – ist für mich eines der größten und schönsten Privilegien der Arbeit im Filmarchiv. Im Fall der singulären Filmkunst Dore O.s war solch eine Studie des Filmmaterials derart beeindruckend und faszinierend, dass diese den Grundstein für meine langjährige Arbeit an einer Publikation legte, die in Zusammenarbeit mit Dore O. begann und tragischerweise erst nach ihrem Tod fertiggestellt werden konnte. 

Vor dem Hintergrund einer erschreckend abwesenden oder gar feindlichen Rezeption experimenteller Filmarbeit von Frauen versucht die Monographie ›Figures of Absence‹, dem künstlerischen Erfindungsreichtum und der formalen Rigorosität Dore O.s gebührend Rechnung zu tragen. Auch wenn sich ihre Filmpraxis außerhalb einer exzessiven Selbstkommentierung entwickelte, möchte ich im Folgenden Dore O. selbst zu Wort kommen lassen, in Begleitung einer Bildserie, die Einblicke in die komplexe Kameraarbeit Dore O.s gewähren soll. Schließlich handelt es sich hierbei um Filme, deren Bilderwelten nicht einfach nur vorgefunden und abgefilmt, sondern vordergründig durch den Gebrauch der Kamera erzeugt wurden. 

In einer Verschaltung von Bildschichtungen, Mehrfachbelichtungen, Einzelbildschaltungen, diversen Blendentechniken, Aufnahmegeschwindigkeiten, Schwenks etc. kreierte Dore O. eine bildhaft und assoziativ erlebte, wandelbare Realität, die sich in einer steten Bildwerdung und Modulation in Anlehnung an malerische, grafische und musikalische Abstraktionen sowie in einer überaus sinnlichen Adressierung der Zuschauer entfaltet.

Mit dem Ziel einer längst überfälligen Aufarbeitung der avantgardistischen Filmpraxis von Dore O. würdigt ›Figures of Absence‹ das Werk und Vermächtnis einer der wegweisendsten, aber kaum erforschten Stimmen des deutschen Experimentalfilms. Als Gründungsmitglied der Hamburger Filmmacher-Cooperative war Dore O. ab 1967 aktiv an der Erkundung neuer filmischer Formen beteiligt und entwickelte dabei ihre eigene »Handschrift, ihren eigenen Ton, ihre eigene Filmmethode« (Harun Farocki). Dore O. legte den Grundstein für spätere Generationen, indem sie persönliche Filmpoetiken in einer starken Überschneidung mit medienspezifischen Experimenten außerhalb vorherrschender Strömungen des politischen, strukturalistischen oder feministischen Films kultivierte. In den Worten der Filmwissenschaftlerin Robin Blaetz sind Dore O.s frühe Filme »eine Art Prototyp für einige der interessantesten und einflussreichsten feministischen Experimentalfilme der frühen 1970er Jahre«.

Die Publikation legt die formalen Errungenschaften und die kulturhistorischen Kontexte einer filmischen Vision frei, die einen wesentlichen Beitrag zu dem internationalen Kontinuum radikaler Filmkunst leistete. Enthalten sind unveröffentlichtes Archivmaterial, Interviews mit Dore O., umfangreiches Bildmaterial sowie neue Beiträge aus Europa und Nordamerika (u.a. von Albert Alcoz, Ute Aurand, Robin Blaetz, Christine Noll Brinckmann, Stephen Broomer, Vera Dika, Marie-Hélène Gutberlet, Mike Hoolboom, Sarah Keller, Dietrich Kuhlbrodt, Anthony Moore, Lucy Reynolds, Tony Reif, Maureen Turim). In einem Versuch der Revision filmgeschichtlicher Kanonbildung entfachen die Essays schließlich eine Debatte über unterrepräsentierte Aspekte der Rezeption und Marginalisierung experimenteller Filmarbeit von Frauen.

1. Zitat von Dore O.

»Wenn das Kino nicht für die Übersetzung von Träumen oder allem, was mit dem Reich der Träume verbunden ist, geschaffen ist, dann gibt es kein Kino.«

(Undatiert, abgedruckt im englischen Verleihmaterial der Filme bis 1974; Übersetzung der Verfasserin)

2. Zitat von Dore O.

»Ich komme ja von der Malerei und da war es viel einfacher, Sachen zu produzieren. Man brauchte nicht sehr viel. Um Filme zu machen, musste man ja zumindest eine Kamera haben, aber das war es dann auch schon fast, wenn man Innovationen hatte. Man konnte also mit einer geliehenen Kamera Sachen ausdrücken, die durchaus projizierbar waren, und die für mich auch Film waren – oder für mich vielleicht, die einzige Art von Film … Wir hatten primär Bilder im Kopf, die wir verwirklichen wollten. Und das ist vielleicht auch eine Art idealistischer Ansatz … Es war vielleicht eine romantische Zeit … Aber ich habe mich da nicht groß geändert, also das ist immer noch mein Anliegen.«

(1998, im Interview mit Christian Bau während der Dreharbeiten für seinen Dokumentarfilm Die kritische Masse. Film im Underground – Hamburg ‘68)

3. Zitat von Dore O.

»Ich möchte keine modernen Filme machen … Man sollte nur persönliche Filme machen, sonst sind sie für niemanden von Interesse. [In meinen Filmen versuche ich,] aus alten Formen neue Architekturen zu machen – wie Fenster, eine Tür, einen Mann … «

(1974, zitiert aus Marjorie Kellers Festivalbericht über die Vorführung von ›Kaskara‹ auf Knokke Exprmntl 5, für welchen Dore O., als einzige Frau, den Grand Prix erhielt; Übersetzung der Verfasserin)

4. Zitat von Dore O.

»Wahr ist, dass man Filme macht wie ein Bild. Etwas trifft Dich. Eine Raumvorstellung, eine bestimmte Bewegung der Kamera, der Person, des Lichtes – darum herum entwickelt sich etwas. Ein Geruch könnte einen Film in Gang setzen. Meine eigene unmittelbare Betroffenheit bewirkt die Umsetzung im Film, d.h. eine Vorstellung, ein Gefühl –  keine Geschichte, kein Drehbuch. Das assoziative, sinnliche Kino ist mein Anliegen. Den Raum zu erobern, der in + hinter der Leinwand liegt und im Zuschauer selbst. In der Technik, mit der Kamera und dem Filmmaterial, eine Ausdrucksweise zu schaffen, die Sujet, Idee + Emotion unterstreicht; nur mit Film + Projektion + Betrachter möglich ist. Vermitteln durch Bild –  Bewegung – Musik – Raum – Zeit – Ton erscheint einem das schönste + unerforschteste Gebiet zu sein. Das Auge ist das wichtigste Organ des Menschen.«

(Undatierte handschriftliche Notizen; vermutlich um 1984)

5. Zitat von Dore O.

»Mit Video wollte ich nie arbeiten … da rauschen die Bilder so durch, als hätte man sich keine Gedanken darüber gemacht, dass jedes Bild doch zählt.«

(2021, im Interview mit Masha Matzke)

6. Zitat von Dore O.

»Durch sparsame / intensive Bildinformation − ein Maximum an Assoziation ≈ Eigenproduktion von Bildern herausfordern. Durch unterbrochene Kontinuität im Film, Kontinuität im Kopf erzeugen. Durch eine bestimmte versetzte Ordnung der Bilder ein starkes Netz erstellen.«

(Filmkritik, März 1976)


»Ich mache keine Missionsarbeit. Ich will nicht vermitteln; ich will Eigenerfahrung realisieren; jeder muß für sich selbst Sachen rausziehen und selbst lernen.«

(Im Gespräch mit Dietrich Kuhlbrodt und Werner Nekes, Allein auf weiter Flur, Frankfurter Rundschau, 30.11.1982)

7. Zitat von Dore O.

»Ich möchte vor etwas davonlaufen und ich kann aus verschiedenen Gründen nicht wirklich weggehen, also mache ich den Film zum Entschwinden, ein Emigrationsfilm … Dabei wollte ich schwebende Bilder machen, die sich stetig verändern, Wasser kann Dampf oder Luft kann Wasser sein, sie sind dasselbe … Es ist nicht notwendig, dass andere Leute die Geschichte darin erkennen können … Ich bin nicht daran interessiert, anderen Leuten Geschichten zu erzählen … Aber dennoch, für mich ist es eine Geschichte.«

(1971, in einem Gespräch mit Tony Reif; Übersetzung der Verfasserin)

8. Zitat von Dore O.

»[Meine Filme] sind sehr unterschiedlich und doch ähnlich in ihren Ansätzen, Bestrebungen und Wünschen. ›Kaldalon‹ beispielsweise basiert auf Mount Analogue, einem Roman von René Daumal. Dieser hochpoetische Roman handelt von einer Expedition, allerdings einer imaginären. Man reist also nicht an realen Orten, sondern in der Vorstellung, und es besteht keinerlei Notwendigkeit, irgendwohin zu gehen. Man muss alle Möglichkeiten, alle Fantasien in sich selbst erleben, und das bezieht sich tatsächlich auf meine Filme, die den Zuschauer in keine Geschichte einbeziehen, ihn keiner Handlung folgen lassen. Sie legen nahe, dass er seine eigenen Ideen, Assoziationen, Gefühle und Möglichkeiten produziert, reproduziert oder von der Leinwand auf sich selbst projiziert.«

(Undatiert, vermutlich Mitte der 1980er; Übersetzung der Verfasserin)

Hinweis auf die Filmvorführung

Am Montag, 29. Mai 2023 um 19 Uhr werden die von der Deutschen Kinemathek restaurierten Kurzfilme ›Alaska‹ (1969), ›Lawale‹ (1969), ›Kaskara‹ (1974) und ›Xoanon‹ (1994) im Rahmen von »ArchiVistas« im Kino Arsenal zu sehen sein. Weitere Informationen und Tickets gibt es hier. Die Publikation von Masha Matzke kann im Rahmen dieses Abends an der Kasse im Kino Arsenal erworben werden.

 

Kurzbiografie Autorin

Masha Matzke

Ihre Leidenschaft ist das analoge Filmbild und der Experimentalfilm. Seit 2017 arbeitet sie am Filmarchiv der Deutschen Kinemathek, seit 2019 im Restaurierungsteam. Während ihres Studiums der Kunstgeschichte, Theater- und Filmwissenschaft war sie als Künstlerin und Experimentalfilmerin tätig, engagierte sich weltweit in artist-run-film-labs und begann ihre Forschungs- und Festivalarbeit zum Avantgardefilm. Seither schreibt sie regelmäßig für diverse internationale Publikationen und präsentiert Filmprogramme. 

Informationen zur Reihe

ArchiVistas
Die Mitarbeiter*innen der Kinemathek stellen in dieser Reihe anlässlich von 60 Jahre Deutsche Kinemathek Sammlungsbestände und Filmschätze vor, mal identitätsstiftend, mal kritisch, mal humorvoll – ein ganz persönlicher Blick auf das Filmerbe der Deutschen Kinemathek.