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Ivana Karbanová und Jitka Cerhová in ›Sedmikrásky‹, Tschechoslowakei 1966, Regie: Věra Chytilová
ⓒ Czech Film Fund / trigon-film.org

Young at Heart – Coming of Age at the Movies

Inhalt

Für das Programm der diesjährigen Berlinale Retrospektive haben 28 Filmemacher*innen ihren persönlichen Filmfavoriten zum Thema »Coming–of-Age« ausgewählt. Hier stellen sie ihre Filme vor.

Filmemacher*innen

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    Maren Ade

    Sans toit ni loi

    (›Vogelfrei‹), F 1985, Regie: Agnès Varda

    Statement
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    Pedro Almodóvar

    Splendor in the Grass

    (›Fieber im Blut‹), USA 1961, Regie: Elia Kazan

    Statement
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    Wes Anderson

    Little Fugitivie

    (›Der kleine Ausreißer‹), USA 1953, Regie: Ray Ashley, Morris Engel, Ruth Orkin

    Statement
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    Juliette Binoche

    Trois couleurs: Bleu

    (›Drei Farben: Blau‹), F/PL/CH 1993, Regie: Krzysztof Kieślowski

    Statement
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    Lav Diaz

    Maynila: Sa mga kuko ng liwanag

    (›Manila‹), PHL 1975, Regie: Lino Brocka

    Statement
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    Alice Diop

    ›À nos amours‹,

    (›Auf das, was wir lieben‹), F 1983, Regie: Maurice Pialat

    Statement
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    Ava DuVernay

    Rue Cases-Nègres

    F 1983, Regie: Euzhan Palcy

    Statement
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    Nora Fingscheidt

    Groundhog Day

    (›Und täglich grüßt das Murmeltier‹), USA 1993, Regie: Harold Ramis

    Statement
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    Kateryna Gornostai

    The Virgin Suicides

    USA 1999, Regie: Sofia Coppola

    Statement
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    Luca Guadagnino

    Seishun zankoku monogatari

    ›Nackte Jugend‹,

    J 1960, Regie: Nagisa Ōshima

    Statement
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    Ryūsuke Hamaguchi

    Taifū kurabu

    J 1985, Regie: Shinji Sōmai

    Statement
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    Ethan Hawke

    Rumble Fish

    USA 1983, Regie: Francis Ford Coppola

    Statement
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    Karoline Herfurth

    Muriel’s Wedding

    (›Muriels Hochzeit‹), AUS/F 1994, Regie: P. J. Hogan

    Statement
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    Niki Karimi

    Khane-ye dust kojast

    (›Wo ist das Haus meines Freundes?‹), IR 1987, Regie: Abbas Kiarostami

    Statement
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    Nadine Labaki

    Ferris Bueller’s Day Off

    (›Ferris macht blau‹), USA 1986, Regie: John Hughes

    Statement
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    Nadav Lapid

    De bruit et de fureur

    (›Lärm und Wut‹), F 1988, Regie: Jean-Claude Brisseau

    Statement
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    Sergei Loznitsa

    Gražuolė

    UdSSR/LTU 1969, Regie: Arūnas Žebriūnas

    Statement
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    Mohammad Rasoulof

    Jeder für sich und Gott gegen alle

    BRD 1974, Regie: Werner Herzog

    Statement
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    Céline Sciamma

    Not a Pretty Picture

    USA 1976, Regie: Martha Coolidge

    Statement
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    Martin Scorsese

    Prima della rivoluzione

    I 1964, Regie: Bernardo Bertolucci

    Statement
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    Aparna Sen

    Aparajito

    (›Der Unbesiegbare‹), IN 1956, Regie: Satyajit Ray

    Statement
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    M. Night Shyamalan

    The Last Picture Show

    USA 1971, Regie: Peter Bogdanovich

    Statement
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    Carla Simón

    El espíritu de la colmena

    (›Der Geist des Bienenstocks‹), ES 1973, Regie: Víctor Erice

    Statement
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    Abderrahmane Sissako

    Touki Bouki

    SEN 1973, Regie: Djibril Diop Mambéty

    Statement
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    Kristen Stewart

    Now and Then

    USA 1995, Regie: Lesli Linka Glatter

    Statement
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    Tilda Swinton

    Kiseye Berendj

    (›Ein Sack Reis‹), IR/J 1996, Regie: Mohammad-Ali Talebi

    Statement
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    Wim Wenders

    Rebel Without a Cause

    (›… denn sie wissen nicht, was sie tun‹), USA 1955,  Regie: Nicholas Ray

    Statement
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    Jasmila Žbanić

    Sedmikrásky

    (›Tausendschönchen‹), Tschechoslowakei 1966, Regie: Věra Chytilová

    Statement

Statement: Maren Ade

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Maren Ade zu ›Sans toit ni loi‹

Ich habe ›Sans toit ni loi‹ von Agnès Varda ausgewählt, weil ich selbst in jüngeren Jahren gerne mehr Filme gesehen hätte, die einen anderen Blick auf Frauen haben. Der Film folgt Mona, einer jungen Frau (Sandrine Bonnaire war 18 Jahre alt, als sie die Rolle gespielt hat), die sich befreit hat. Eine Drifterin, die wenig preisgibt, und für die Menschen, denen sie begegnet, zur Projektionsfläche wird. In Interviews versuchen ihre flüchtigen Begegnungen etwas über sie zu erzählen, erzählen am Ende jedoch nur etwas über sich selbst. Dass die Suche einer Frau nach Freiheit bei den Menschen so unterschiedliche Gefühle auslösen kann – von Ekel und Verstörung bis hin zu Sorge und Sehnsucht – hat komödiantische Züge.

Auch wenn Mona während ihrer Reise und besonders am Ende einen hohen Preis bezahlt, bleibt sie ihrem Vorhaben treu, sich von niemandem vereinnahmen zu lassen, so dass ihr Tod am Ende auf verquere Weise auch ein Heldinnentod ist.

Einer Frauenfigur zu folgen, die sich nicht erklärt, und die auch der Film nicht versucht zu erklären, ist für mich auch heute noch etwas Besonderes.

 

Maren Ade 
Regisseurin, Produzentin 
* 1976 Karlsruhe, Bundesrepublik Deutschland 

2003 Regiedebüt mit ›Der Wald vor lauter Bäumen‹, 2009 im Berlinale-Wettbewerb mit dem Beziehungsdrama ›Alle anderen‹, das den Großen Preis der Jury erhielt. Ihr Vater/Tochter-Drama ›Toni Erdmann‹ (2016) wurde für den Oscar nominiert und vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen und Deutschen Filmpreis. 

Statement: Pedro Almodóvar

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Foto: Nico Bustos © El Deseo

Pedro Almodóvar: ›Splendor in the Grass‹

Pedro Almodóvar
Regisseur, Drehbuchautor, Produzent
* 1949 Calzada de Calatrava, Spanien 

Dem aktuell bekanntesten spanischen Regisseur gelang der internationale Durchbruch mit dem queeren Dreiecksdrama ›La ley del deseo‹ (›Das Gesetz der Begierde‹), für das er 1987 den ersten Berlinale-Teddy erhielt. 1990 im Wettbewerb mit ›¡Átame!‹ (›Fessle mich‹). Seither wurde er mehrfach mit Festivalpreisen und dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, für ›Todo sobre mi madre‹ (›Alles über meine Mutter‹) auch mit einem Oscar und einem Golden Globe. 

Statement: Wes Anderson

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Wes Anderson zu ›Little Fugitive‹

Die beste und schlüssigste Einführung zu diesem wunderbaren Film, den Ruth Orkin 1953 gemeinsam mit Morris Engel und Raymond Abrashkin [aka Ray Ashley] gemacht hat, liefern wohl ihre eigenen Worte und Fotografien. 

»Die meisten Regisseur*innen haben vor ihrem ersten Hollywood-Film bereits Erfahrungen in anderen Bereichen des Filmwesens gesammelt: sei es als Drehbuchautor*in, als Schauspieler*in, an der Kamera, im Schnitt, als Regieassistenz*in oder rund um den Kinosaal. Und wenn sie dann endlich im Regiestuhl sitzen, hält ihnen eine komplette Filmcrew den Rücken frei. Wir hingegen hatten lediglich uns selbst.

Ohne unseren fotografischen Hintergrund hätten wir nie Filme drehen können«. 

 

Wes Anderson
Regisseur
* 1969 Houston, USA 

Wes Anderson wurde in Houston, Texas geboren. Zu seinen Werken zählen ›Bottle Rocket‹, ›Rushmore‹, ›The Royal Tenenbaums‹ (Berlinale-Wettbewerb 2002), ›The Life Aquatic with Steve Zissou‹ (Berlinale-Wettbewerb 2005), ›The Darjeeling Limited‹, ›Fantastic Mr. Fox‹, ›Moonrise Kingdom‹, ›The Grand Budapest Hotel‹ (Eröffnungsfilm der Berlinale 2014), ›Isle of Dogs‹ (Eröffnungsfilm der Berlinale 2018) und ›The French Dispatch‹. Sein jüngster Film, ›Asteroid City‹, wird im Sommer 2023 von Focus Features veröffentlicht. ›The Wonderful Story of Henry Sugar‹ (für Netflix) befindet sich derzeit in der Postproduktion. 

Statement: Juliette Binoche

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Juliette Binoche zu ›Trois couleurs: Bleu‹

Für mich ist ›Trois couleurs: Bleu‹ ein Film über das Erwachsenwerden. Denn er handelt vom Abschiednehmen, und ich glaube, dass wir erst durch Verzicht wachsen und uns entwickeln. Reife kennt kein Alter. Vielmehr ist sie die Fähigkeit, mit Demut zu akzeptieren, dass die Zeit eine Fiktion ist und dass hinter dieser Fiktion eine Zeitlosigkeit existiert, die uns alterslos, ja, unsterblich macht. Wenn man mit dieser Nicht-Zeit in Berührung kommt, dann ist man erwachsen geworden, oder hat zumindest einen bewussteren Zustand erreicht. 

 

Juliette Binoche
Schauspielerin
* 1964 Paris, Frankreich 

Weltberühmt seit ›The Unbearable Lightness of Being‹ (1988). Europäische Filmpreise für ›Les Amants du Pont-Neuf‹ (1991) und ›The English Patient‹ (1997), für den sie – nach der Berlinale-Kamera (1993) – auch einen Silbernen Bären und einen Oscar erhielt. Mehrfach war sie im Berlinale-Wettbewerb präsent, 2015 im Eröffnungsfilm ›Nadie quiere la noche‹. 2022 mit ›Avec amour et acharnement‹ (R: Claire Denis). 2019 war sie Präsidentin der Internationalen Jury. 

Statement: Lav Diaz

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Lav Diaz zu ›Maynila, sa mga kuko ng liwanag‹

Es war 1975, das dritte Jahr von Ferdinand Marcos’ Schreckensregime auf den Philippinen. Es war auch mein erstes Jahr auf dem College, und mein Professor für Philippinische Literatur gab uns die Aufgabe, einen neuen Film von Lino Brocka anzuschauen und einen Aufsatz mit unseren Eindrücken dazu zu verfassen. Er meinte, der Film wäre »hochaktuell«, was den Zustand der Nation anginge, er basiere auf einer Geschichte von Edgardo M. Reyes. Dann erwähnte er noch, dass der Regisseur samt Darsteller*innen zu Promo-Zwecken verschiedene Universitäten besuchen würde. Auch unseren Kurs. Ein paar Tage später gab es tatsächlich eine Fragestunde mit Lino Brocka und seinem Nachwuchsschauspieler Rafael »Bembol« Roco. Brocka sagte, es wäre Rocos Erstling, und dass er ihn in einer Theateraufführung einer Entzugsklinik entdeckt habe. Erst Jahre später erfuhr ich, dass Roco gar nicht Brockas erste Wahl für die Rolle gewesen war. Sie hatten schon ein paar Szenen mit einem anderen Schauspieler gedreht, der damals ziemlich angesagt war und alles andere als ein »Versager«. Aber er war ganz schon beleibt und sah viel zu bourgeois aus für einen Vertreter des Lumpenproletariats. Roco brachte die erforderlichen Attribute für einen Vertreter der Arbeiterklasse mit.

Eine Woche später habe ich mit zwei Kommilitonen ›Maynila, sa mga kuko ng liwanag‹ in einem Kino in der Stadt gesehen. Der Film wirkte unmittelbar und kathartisch auf mich, wie eine Epiphanie. Ich war bereit für ganz persönliche Veränderung. Direkt nach der Vorstellung besuchten wir ein billiges, schmutziges Straßenrestaurant und diskutierten bis in die frühen Morgenstunden über den Film. Dann schrieb ich meinen Aufsatz. Er wurde als einziger von unserem Dozenten vorgelesen (wie peinlich!), und er lobte die »tiefgehenden Einsichten in gesellschaftliche Belange«. Neben der Kulturkritik machte ich in dem Aufsatz auch deutlich, dass der Film bei mir für eine grundlegende Veränderung gesorgt hatte. Ich hatte realisiert, dass Kino nicht nur Unterhaltung, sondern ein mächtiges diskursives Medium ist, in dem für die Menschheit drängende und wichtige Themen verhandelt werden. Und ich äußerte den Wunsch, dass ich das Kino eines Tages auch mit Filmen wie ›Maynila, sa mga kuko ng liwanag‹ bereichern könnte. 

 

Lav Diaz
Regisseur
* 1958 Datu Paglas, Philippinen 

Studierte Wirtschaftswissenschaften, später am Mowelfund-Filminstitut in Manila. Mit seinem Spielfilm ›Naked Under the Moon‹ war er 2000 im Berlinale-Forum präsent. Nach dem fünfeinhalbstündigen ›From What is Before‹ (2014) lief sein achtstündiger Schwarzweißfilm ›A Lullaby to the Sorrowful Mystery‹ 2016 im Berlinale-Wettbewerb und erhielt einen Silbernen Bären. 2018 wurde ›Season of the Devil‹ zur Berlinale eingeladen. 

Statement: Alice Diop

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© A. Lamachere

Alice Diop: ›À nos amours‹

Alice Diop
Regisseurin, Drehbuchautorin
* 1979 Aulnay-sous-Bois, Frankreich 

Nachdem sie an der Sorbonne Geschichte und Visuelle Soziologie studiert hatte, begann Diop Dokumentarfilme zu machen. Zu ihren Werken zählen ›Les Sénégalaises et la Sénégauloise‹ (2007), ›La Mort de Danton‹ (2011), ›La Permanence‹ (2016) und ›Towards Tenderness‹ (2016), für den sie 2017 den César für den Besten Kurzfilm gewann. Ihre Dokumentation ›We‹ (2020) wurde 2021 als Bester Dokumentarfilm und Bester Film in der Encounters-Sektion der Berlinale ausgezeichnet. ›Saint Omer‹, Diops Spielfilmdebüt, gewann 2022 den Silbernen Löwen (Großer Preis der Jury) und den »Luigi De Laurentiis«-Preis bei den Filmfestspielen von Venedig und wurde als französischer Beitrag für die Oscars 2023 eingereicht.

Statement: Ava DuVernay

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© Koury Angelo, Getty Images

Ava DuVernay zu ›Rue Cases-Nègres‹

Jose ist ein aufgeweckter und freundlicher kleiner Junge. Er wird liebevoll von seiner Großmutter aufgezogen, die schuftet, um ihm eine gute Ausbildung zu finanzieren und ihn so vor dem Schicksal eines Lebens auf den Zuckerrohrfeldern zu bewahren. Das Kind freundet sich mit einem alten Mann an, der sich noch an seine Tage als Sklave erinnert und eines Tages nach Afrika zurückkehren möchte. Dies weckt in dem Jungen ganz neue Träume von der Freiheit. Unter dem meisterhaften Blick von Madame Euzhan Palcy entfaltet sich eine so simple wie machtvolle Erzählung. Sie erinnert uns daran, dass man der Vergangenheit, wie brutal sie auch sein mag, ins Gesicht sehen muss, damit es eine emanzipierte Zukunft geben kann. Losgelöst vom Schmerz. Und stattdessen kraftvoll und mutig geworden durch ihn. Mit diesem glänzenden Debüt erschafft Palcy ein so fesselndes wie vielschichtiges Bildwerk der Menschlichkeit. Sie entführt uns auf die Insel Martinique, deren Natur – in ihrer Üppigkeit und Zähigkeit, in ihrer Wärme und ihren Wundern – das Wesen ihrer mutigen Bewohner widerzuspiegeln scheint. Mit der Kamera erzählt sie mit großer Intimität und Unmittelbarkeit von komplizierten historischen Verstrickungen und sorgt dafür, dass wir Jose und die Reise seines Volkes lange nicht mehr vergessen werden.

 

Ava DuVernay 
Regisseurin 
* 1972 Long Beach, Kalifornien, USA 

Ava DuVernay wurde als erste afroamerikanische Regisseurin für einen Academy Award in einer Langfilm-Kategorie nominiert. Sie wurde mit mehreren Emmy, BAFTA, NAACP und Peabody Awards ausgezeichnet. Zu ihren Werken zählen ›Selma‹, der 2015 im Berlinale-Wettbewerb lief, ihr Dokumentarfilm ›13th‹ und ›A Wrinkle in Time‹, mit dem sie die höchsten Einspielergebnisse einer Schwarzen Regisseurin aller Zeiten erzielte. 2021 war sie Gast der Berlinale Talents. Aktuell arbeitet sie an der filmischen Umsetzung von ›Caste: The Origins of Our Discontent‹ von Pulitzer-Preis-Gewinnerin Isabel Wilkerson. 

 

Statement: Nora Fingscheidt

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Nora Fingscheidt zu ›Groundhog Day‹

›Groundhog Day‹ war meine erste bewusste Filmerfahrung, die meine Sicht auf die Realität verändert hat, und es war der erste Film, der mich dazu brachte, einen Anti-Helden zu feiern. Ich muss 8 oder 9 gewesen sein und ging nach dem Film ins Bett mit den Gedanken: »Was, wenn der heutige Tag morgen früh noch mal beginnt?« oder »Wenn alles, was ich heute mache, egal ist, weil es morgen schon rückgängig gemacht wurde, was will ich dann überhaupt tun?« Fiktion und Realität verschoben sich und dieses Gefühl hat mich nachhaltig beeindruckt.

Nun ist ›Groundhog Day‹ vielleicht kein klassischer Coming-of-Age-Film. Zumindest ist die Hauptfigur erwachsen. Aber was heißt das schon? Phils Gefühlswelt kommt manchem jungen Menschen vielleicht bekannt vor: Er fühlt sich einsam, missverstanden und umgeben von Idioten. Obwohl er sich teilweise schrecklich verhält, muss man ihn einfach lieben. Die Zeitschleife, in der er gefangen ist, wird für ihn Himmel und Hölle. Er hat ein ungewolltes spirituelles Erlebnis, begegnet zum ersten Mal der wahren Liebe und wird am Ende eine Person, die er vielleicht nie sein wollte – aber immer in sich trug.

Nachdem ich ›Groundhog Day‹ 25 Jahre nicht gesehen hatte, habe ich ihn letztes Jahr mit meinem Sohn geschaut und musste feststellen, dass der Film mich immer noch genauso berührt wie als Kind. Was für eine geniale Geschichte! Wenn ein Film mich zum Lachen anregt, während ich über das Leben nachdenke, ist das für mich Perfektion des Kinos. Ich glaube, wir sollten vor allem in diesem Winter im Kino herzlich lachen dürfen, und ich hoffe, dass der Film von vielen Jugendlichen neu entdeckt wird.

 

Nora Fingscheidt
Regisseurin
* 1983 Braunschweig, Bundesrepublik Deutschland

Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg. 2012 Teilnehmerin der Berlinale Talents. Nach dem Dokumentarfilm ›Ohne diese Welt‹ (2017) entstand das lautstarke Drama ›Systemsprenger‹ als Spielfilmdebüt, das im Berlinale-Wettbewerb 2019 einen Silberner Bären erhielt. 2021 folgte das mit Sandra Bullock besetzte englischsprachige Resozialisierungsdrama ›The Unforgivable‹. 

Statement: Kateryna Gornostai

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© Nikon Romanchenko

Kateryna Gornostai zu ›The Virgin Suicides‹

Ich sah ›The Virgin Suicides‹ zum ersten Mal, als ich so alt war wie Cecilia, eine der Lisbon-Schwestern aus dem Film. Und diese seltsam versponnene Welt der amerikanischen Teenagerinnen, die Sofia Coppola in ihrem Film porträtiert, erschien mir, dem ukrainischen Mädchen, zugleich fern und doch sehr vertraut. Die psychologischen Entwicklungen, die man in dieser Lebensphase durchläuft, scheinen sich überall auf der Welt zu gleichen. 

Und so sprach mir Cecilia in einem kurzen Dialog mit einem Arzt aus dem Herzen: 

- Du bist doch noch viel zu jung, um zu wissen, wie hart das Leben ist.  
- Ach wirklich, Doktor, waren Sie mal ein dreizehnjähriges Mädchen? 

Dieser Film machte mich mit einer wichtigen Skript-Technik bekannt, die ich auch in meiner Arbeit einzusetzen versuche: das Pathos einer Szene abzuschwächen. Das heißt, egal, wie ernst eine Szene auch sein mag, am Ende stoßen wir auf jeden Fall auf ein alltägliches oder komisches Detail, das die Spannung abmildert. Zum Beispiel erscheint Cecilias Geist am Bett eines Jungen. Sie betrachtet ihn lange und sagt dann: »Hey, du schnarchst ja ganz schön laut«, kurz bevor der Wecker klingelt. Die Brillanz der Szene liegt in ihrer Schlichtheit. 

 

Kateryna Gornostai 
Regisseurin 
* 1989 Luzk, Ukraine 

Gornostai besuchte 2012/13 die Schule für Dokumentarfilm und Dokumentartheater von Marina Razbezhkina und begann in dieser Zeit, Dokumentarfilme zu drehen. Ihr Spielfilmdebüt ›Stop-Zemlia‹ wurde bei der Berlinale 2021 im Wettbewerb Generation 14plus mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet. 2023 ist sie Mitglied der Jury dieser Berlinale-Sektion.

Statement: Luca Guadagnino

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Luca Guadagnino zu ›Seishun zankoku monogatari‹

Ich habe den Film ›Seishun zankoku monogatari‹ von Nagisa Ōshima ausgewählt, weil er eine enorme Bedeutung für die Filmgeschichte und viele Filmschaffende hat. Auch für mich. Ōshimas Figuren verkörpern seine Sicht auf das Enttäuschtsein am Leben so eindrücklich, dass auch das heutige Publikum sich dem nicht entziehen kann. Wie lebendig und kraftvoll Ōshima seine Geschichten erzählt, hat mich schon immer fasziniert, und bin überzeugt davon, dass der Film das diesjährige Programm bereichern wird.

Luca Guadagnino
Regisseur
* 1971 Palermo, Italien 

Luca Guadagnino ist Drehbuchautor, Regisseur und Produzent. Viele seiner Werke wurden im Rahmen der Berlinale gezeigt. ›I am Love‹ (2009) lief 2010 in der Sektion Kulinarisches Kino, das hochgelobte ›Call Me By Your Name‹ wurde 2017 im Panorama präsentiert. Nach dem erfolgreichen Film ›Bones And All‹, der im November 2022 anlief, hat Luca Guadagnino sich weiteren Projekten gewidmet: ›Challengers‹ (2023) und dem derzeit in der Postproduktion befindlichen ›Queer‹, nach William S. Burroughs’ gleichnamigem Roman.

Statement: Hamaguchi

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Ryūsuke Hamaguchi zu ›Taifū kurabu‹

Ganz offensichtlich ist es nicht so, dass wir ein bestimmtes Alter erreichen und damit plötzlich erwachsen sind. Als junger Mensch rechnet man noch damit, sich eines Tages vollständig erwachsen zu fühlen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das Kind in uns immer weiterleben wird. Und so soll es auch sein. Vielleicht machen genau diese Aspekte das Erwachsensein aus: Sich seines inneren Kindes bewusst zu sein und zu wissen, wie man es beschützt. Dies ist also ein Film über Kinder, weswegen die Protagonisten Ihnen nicht fremd erscheinen werden. Er spielt vor über 30 Jahren in Asien. Diese Kinder, sie sprühen vor Lebensfreude, sie wünschen sich etwas, sind aber frustriert, weil sie es nicht bekommen können. Sie schließen Freundschaften und sie empfinden Glück. Und dann trennen sich ihre Wege wieder. So ist das Leben. Über Zeit und Raum hinweg, erinnern diese Kinder Sie nicht vielleicht ein wenig an Sie selbst? Wie sie vor einer kleinen Weile waren oder sogar heute noch sind? Das müssen Sie selbst herausfinden. Und vielleicht hilft es Ihnen dabei, für das Kind zu sorgen, das Sie lebenslang begleiten wird.

Ryūsuke Hamaguchi 
Regisseur, Drehbuchautor 
* 1978 Kawasaki, Japan 

Studierte u. a. Kunst und Film in Tokio. Nach dem Abschlussfilm ›Passion‹ (2008) gelang ihm der internationale Durchbruch mit dem fünfstündigen, weiblich fokussierten Beziehungsdrama ›Happy Hour‹ (2015). Frauen stehen auch im Zentrum des Episodenfilms ›Guzen to sozo‹ (›Das Glücksrad‹), der 2021 im Berlinale-Wettbewerb den Großen Preis der Jury erhielt. 2022 war er Mitglied der Internationalen Jury der Berlinale und wurde mit einem Oscar für ›Drive My Car‹ ausgezeichnet. 

Statement: Ethan Hawke

© Francois Berthier

Ethan Hawke zu ›Rumble Fish‹

Als Jungschauspieler durfte ich in ›Dead Poets Society‹ mitwirken, Jahre später reifte ich bei den Dreharbeiten zu ›Boyhood‹ zum erwachsenen Schauspieler. Ich denke, ich bin also durchaus qualifiziert, einen Beitrag zum Thema »Coming-of-Age«-Film zu leisten.

Ich habe einmal gelesen, dass Coppola ›Rumble Fish‹ als »Art-Film für Teenager« bezeichnet hat. Für mich hat er jedenfalls so funktioniert. Er hat mich und mein oberflächliches Interesse an der Sexyness von ›Die Outsider‹ an die Hand genommen, um mich dann mit anspruchsvolleren Ideen zu konfrontieren: der fließenden Natur der Zeit, der existentiellen Angst beim Warten auf ein Leben als Erwachsener.

In der Rolle des jugendlichen Rusty James brilliert Matt Dillon auf unerreichte Weise, ich finde, da kommt nicht einmal James Dean heran. Zur Seite steht ihm Mickey Rourke und sieht dabei Albert Camus frappierend ähnlich. Dazwischen schwebt Dennis Hopper umher wie ein Gespenst – die Enttäuschung über all das verkörpernd, was unsere Eltern nicht sind.

Ich bin mir sicher, das Publikum wird ›Rumble Fish‹ als einen Film für Jungs betrachten, aber er ist ein Jungsfilm mit einem dezidiert weiblichen Blick. S. E. Hinton hat uns viel darüber vermittelt, wie Erwachsenwerden aussieht – und wie Nicht-Erwachsenwerden aussieht. Ich habe ›Rumble Fish‹ mit meiner Tochter geschaut, als sie sechzehn war. Beim Abspann hat sie mich angesehen und sagte: »Endlich kann ich dich verstehen«.

Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht genau, was sie damit gemeint hat.

Ethan Hawke 
Schauspieler, Regisseur, Autor 
* 1970 Austin, Texas, USA 
Hawke erlangte weltweiten Ruhm mit seiner Paraderolle in ›Dead Poets Society‹ (1989). Neben Julie Delpy war er Hauptdarsteller in Richard Linklaters bei der Berlinale erstaufgeführten Generation-X-Trilogie ›Before Sunrise‹ (1995), ›Before Sunset‹ (2004) und ›Before Midnight‹ (2013). Für seine schauspielerische Leistung in Linklaters ›Boyhood‹ (2014), der im Berlinale-Wettbewerb gezeigt wurde, erhielt er eine Oscar-Nominierung. Regie geführt hat er bei ›Chelsea Walls‹ (2001), ›The Hottest State‹ (2007) und ›Blaze‹ (2018). Aktuell inszeniert er das »Flannery O’Connor«-Biopic ›Wildcat‹. 

Statement: Herfurth

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© Anne Wilk

Karoline Herfurth zu ›Muriel’s Wedding‹

›Muriel’s Wedding‹ ist für mich einer der wichtigsten Filme der 1990er und meiner Jugend. Muriels größter Wunsch ist es, jemandes Braut zu sein, endlich gewollt und geliebt zu werden. Sie ist der festen Überzeugung, würde ein Mann sie heiraten, wäre sie endlich etwas wert. Dann wäre sie endlich liebenswürdig – und nicht mehr die Versagerin der Kleinstadt Porpoise Spit. Durch Zufall lernt sie ihre erste richtige Freundin Rhonda kennen und mithilfe dieser Freundschaft schafft sie es, sich von ihrer toxischen Herkunftsfamilie, mit einem narzisstischen Vater und einer depressiven Mutter, zu lösen und ihren idealisierten Traum durch echtes Selbstvertrauen zu ersetzen. In meiner Jugend gab es kaum Filme über junge Frauen, in denen es darum ging, sich von weit verbreiteten Idealen zu befreien und bei sich selbst anzukommen. Zwischen den perfekten Körpern und wahrgewordenen Kuschelrockphantasien auf Leinwand, in denen es immer das Ziel war, begehrenswert für einen Mann zu sein, war ›Muriel’s Wedding‹ eine echte, warme Umarmung und für mich der Schlüssel in eine andere, gesündere Welt. Und auch jetzt als Filmemacherin ist dieser Film in seiner Tonalität und seiner inspirierenden Mischung aus Komik und Schmerz ein großes Vorbild. 

 

Karoline Herfurth
Schauspielerin, Regisseurin, Autorin
* 1984 Berlin/DDR 

Karoline Herfurth wirkte ab 2001 als Schauspielerin in über 40 Filmen mit, darunter die Fack-ju-Göhte-Reihe (2013–2015), ›Die kleine Hexe‹ (2018) und ›Das perfekte Geheimnis (2019). 2009 war sie mit der US-Koproduktion ›Der Vorleser‹ im Berlinale-Wettbewerb vertreten. Ihrem Regiedebüt ›Mittelkleiner Mensch‹ folgten die erfolgreichen Spielfilme ›SMS für Dich‹, ›Sweethearts‹, ›Wunderschön‹ und ›Einfach mal was Schönes‹, bei denen sie nicht nur für die Regie verantwortlich zeichnete, sondern auch als Co-Autorin und Hauptdarstellerin fungierte. 

Statement: Niki Karimi

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Foto: Payam Eraee

Niki Karimi zu ›Khane-ye dust kojast‹

›Khane-ye dust kojast‹ ist ein magischer Film. Ich kann mich noch glasklar an das erste Mal erinnern, als ich ihn sah. Ich war 17, und er hat mich überwältigt. Und ich empfinde immer noch exakt dieselbe Euphorie, wenn ich an dieses erste Mal denke, in meinem Herzen, meinem Geist, meinem Körper. Wie etwas, das nicht von dieser Welt ist, so rein und so menschlich. Wie gute Musik, wie eine Symphonie, die etwas tief im Herzen berührt, und einen verzaubert. 

Der Junge, der mich immer an den Kleinen Prinzen aus der Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry erinnert hat, kämpft sich durch sein kleines Leben, und er kommt an diesem Baum auf dem Berg vorbei und nimmt uns alle mit auf seine Suche nach Menschlichkeit und Güte. 

Ich verbinde mit diesem Film so viele Erinnerungen: wie ich ihn mir vor Jahren mit Abbas noch einmal angesehen habe, wie wir zu diesem berühmten Berg im Norden des Iran, nach Koker, fuhren, wie ich ein Hochzeitsvideo des mittlerweile erwachsenen Schauspielers Babak Ahmadpour drehte. Abbas Kiarostami hat ein magisches Werk von zeitloser Schönheit geschaffen.

 

Niki Karimi
Schauspielerin, Regisseurin
* 1971 Teheran, Iran 

Seit ihrem Leinwanddebüt 1989 erhielt die charismatische Iranerin nationale und internationale Filmpreise. 2001 drehte sie ihren ersten Dokumentarfilm, 2005 ihren ersten Spielfilm ›Eine Nacht‹, der bei Un Certain Regard in Cannes lief. 2007 war sie bei der Berlinale Mitglied der Jury Preis Bester Erstlingsfilm. Der von ihr produzierte Spielfilm ›Ta farda‹ (›Until Tomorrow‹) erlebte seine Uraufführung 2022 im Berlinale-Panorama. Zur Berlinale 2023 ist sie Patin bei den European Shooting Stars. 

Statement: Nadine Labaki

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Foto: Fares Sokhn

Nadine Labaki zu ›Ferris Bueller’s Day Off‹

›Ferris Bueller’s Day Off‹ war einer dieser Filme, die ich als Jugendliche unzählige Male gesehen habe, vor allem an jenen Tagen, an denen wir wegen des Krieges das Haus nicht verlassen konnten. So etwas kam häufig vor, wir haben also viel Zeit zuhause oder in Schutzunterkünften verbracht. Ich bin 1974 geboren und wuchs während des Krieges im Libanon auf. 

Und ich fühlte mich magisch angezogen von allem, wofür Ferris Bueller stand: Freiheit, Regelbruch, gegen die Norm zu leben und zu denken, und für alles eine originelle Alternative auf Lager zu haben. Wenn man im Krieg aufwächst, gibt es viele Verbote. Ich durfte nicht nach draußen gehen, nicht draußen spielen, eine normale Kindheit blieb mir so verwehrt. 

Außerdem wuchs ich als Mädchen in der arabischen Welt auf, und der soziale Druck, den die Gemeinschaft auf uns ausübte, war enorm. Man sollte den Erwartungen möglichst aller gerecht werden und sich stets vorbildlich verhalten. Der Film erzählte von einer Rebellion gegen das System, und ich habe den Status quo schon immer infrage gestellt. Und deswegen liebe ich diesen Film so sehr: Weil es um Rebellion geht, darum, sich an den herrschenden Verhältnissen zu reiben. Und die Musik, die Freiheit in diesem Film, stand für alles, was mir als Jugendliche und als Kind versagt blieb. Er gab mir die Chance, der Langeweile meiner eigenen Realität zu entfliehen, und all dem Druck, der auf mir lastete. Es war einer definitiv einer meiner Lieblingsfilme als Heranwachsende. 

 

Nadine Labaki 
Regisseurin, Schauspielerin 
* 1974 Baabda, Libanon 

Nach Musikvideos und einem Filmstudium in Beirut Spielfilmdebüt mit ›Caramel‹ (2007), gefolgt von ›Where Do We Go Now?‹ (2011). Neben der Lebenssituation von Frauen thematisierte sie den Bürgerkrieg sowie religiöse und soziale Konflikte in ihrem Land. ›Capernaum‹, ihr Drama um einen zwölfjährigen Beiruter Straßenjungen, wurde 2018 für den Oscar nominiert. 

Statement: Nadav Lapid

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© Guy Ferrandis / SBS Films

Nadav Lapid zu ›De bruit et de fureur‹

Weil der Film seine eigene Realität erfindet, anstatt das »echte Leben« imitieren zu wollen. Weil er kein Problemfilm im Sinne von »Verzweiflung und Gewalt in armen Pariser Vororten, in denen Diskriminierung durch die französische Regierung herrscht« ist, sondern ein Film über menschliche Existenz, über das Sein in dieser Welt. Und dazu wird nicht in einer Bibliothek oder per Google recherchiert, sondern in Geist und Seele geforscht – mit Formen und Farben, nach Worten und deren melodischem Klang, nach Argumenten und Fakten. Weil seine Wahrheit auf der Wahrheit des Kinos fußt, der Wahrheit eines Films, eingefangen von der Macht der Vorstellungskraft, artikuliert durch kinematografische Mittel, nicht die Wahrheit, die sich angeblich vor unseren Augen abspielt; oder eine Wahrheit, die einem durch feinziselierte Plots aufgezwungen wird. Weil man ihm keinem Typus oder Genre zuordnen kann. Er schließt sie alle ein und gehört doch keinem an. Weil der Film sich weitestgehend vom Naturalismus abgrenzt, sich in den Himmel und jenseits der Sterne erhebt, jenseits des Fantastischen, des Alltäglichen, des Komischen und des Schrecklichen. Weil er das Irdische hinter sich lässt, um das Höllische zu erreichen und Anmut dazu – zwei Dinge, die natürlich eine Verbindung aufweisen – bevor er das Hier und Jetzt erneut in Besitz nimmt. All das und wie markant die Gesichtsausdrücke und Körpersprache der zwei, drei Hauptdarsteller sind, machen Lärm und Wut zu einem einzigartigen Film über die qualvollen Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv. Und zu einem der wahrhaftigsten Filme, die ich je gesehen habe.

Ein Film wie Lärm und Wut sträubt sich gegen die heute so beliebten »gepflegten« sozialen und politischen Filme; er erinnert uns das daran, dass Kino nur etwas Bestimmtes verhandeln kann, wenn es ALLES verhandelt. Und sich selbst dazu.

 

Nadav Lapid
Regisseur, Drehbuchautor
* 1975 Tel Aviv, Israel 

Zunächst Kultur- und Sportjournalist. Studierte Philosophie und Geschichte in Tel Aviv, Französisch in Paris. War 2005 mit seinem an der Sam Spiegel Film & Television School, Jerusalem, entstandenen Kurzfilm ›Kvish‹ im Berlinale-Panorama zu Gast. Spielfilmdebüt 2011 mit ›Policeman‹. 2015 folgte der Kurzfilm ›Lama?‹ im Berlinale-Wettbewerb, 2019 ein Goldener Bär für ›Synonymes‹, der auch den Fipresci-Preis gewann. 2021 saß er in der Jury des Berlinale-Wettbewerbs. 

Statement: Sergei Loznitsa

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© Imperativ Film

Sergei Loznitsa zu ›Gražuolė‹

Sollte ich den Film ›Gražuolė‹ von Arūnas Žebriūnas in wenigen Worten beschreiben, würde ich wohl Antoine de Saint-Exupéry zitieren: »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«. Das Wesentliche, in unserem Fall das Schöne, mag unsichtbar sein, und doch kann man es wahrnehmen. Die Protagonistin des Films, die kleine Inga, vollführt einen hypnotischen rituellen Tanz, und verwandelt sich dabei vom hässlichen kleinen Entlein in einen wunderschönen Schwan. Die Unschuld, Aufrichtigkeit, Reinheit und Freundlichkeit der kleinen Heldin ist wie ein heilender Balsam für geschundene Seelen. 

Arūnas Žebriūnas (1930–2013) gilt als einer der wichtigsten und talentiertesten litauischen Filmemacher seiner Generation, ein Wegbereiter des poetischen Kinos Litauens und Schöpfer des ersten litauischen Filmmusicals überhaupt, ›Velnio nuotaka‹ (›Devil’s Bride‹, 1973). In Žebriūnas’ Filmen spielen häufig Kinder die Hauptrolle. Ihre ersten Begegnungen mit der Welt der Erwachsenen werden als essenzielle Verlusterfahrung dargestellt, das kindliche Leben kann so seinen Sinn verlieren. »Ich habe keine Filme für Kinder gedreht, aber ich habe Filme mit Kindern gedreht«, sagte Arūnas Žebriūnas. In einer Zeit, als die künstlerische Freiheit von der Staatsideologie unterdrückt wurde, in der Litauen unter sowjetischer Besatzung stand und das Aussprechen der Wahrheit eine riskante Angelegenheit war, die einen die berufliche Existenz oder sogar das Leben kosten konnte, in einer Zeit, in der Künstler nach Möglichkeiten suchten, trotzdem authentisch zu bleiben, gelang es Arūnas Žebriūnas, seinen unverwechselbaren Stil zu entwickeln und seinen Weg zu gehen.

 

Sergei Loznitsa
Regisseur
* 1964 Baranawitschy, Weißrussische SSR, heute: Republik Belarus 

Studierte Mathematik in Kiew, dann Film in Moskau. Seit 1996 realisierte er 26 Dokumentarfilme, zunächst zur sowjetischen Geschichte für das Dokumentarfilmstudio (SPSDF) in St. Petersburg, später Spielfilme, darunter ›Mein Glück‹ (2010), ›Im Nebel‹ (2012), ›Die Sanfte‹ (2017) und ›Donbass‹ (2018). Loznitsa lebt seit 2007 in Berlin, seit 2014 betreibt er mit Atoms & Void eine eigene Produktionsfirma. Der Dokumentarfilm ›Den’ Pobedy‹ (›Tag des Sieges‹) wurde 2018 im Berlinale-Forum gezeigt. 

Statement: Mohammad Rasoulof

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© Cosmopol Film

Mohammad Rasoulof zu ›Jeder für sich und Gott gegen alle‹

Als ich gerade mal so das Teenager-Alter erreicht hatte, bin ich zufällig auf einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher gestoßen. Ich war total fasziniert von der Bilderwelt des iranischen Staatsfernsehens.

Damals gab es lediglich zwei Fernsehsender, beide in Staatseigentum, beide strengen islamischen Reglementierungen und der Zensur unterworfen. Das Nutzen von VHS-Geräten war verboten, der Besitz einer Videokassette wurde als Verbrechen betrachtet.

In solch einer repressiven Atmosphäre hat mich ein Film besonders beeindruckt: eine merkwürdige Geschichte einer patriarchalischen Macht, die ganz grundlegende menschliche Rechte ignoriert, und jemandem die Möglichkeit des Menschseins einfach genommen hatte.

Jahre später fand ich den Titel des Films heraus, der mich als Teenager so fasziniert hatte. Wenn man die Geschichte als Metapher betrachtet, zeigt sie, wie Kaspars Wille ihn durch die Zwänge der Macht zum Opfer macht, und das verbindet die Geschichte für mich mit den politischen Verhältnissen im Iran. Ich habe noch immer gut in Erinnerung, wie ich diesen Film geschaut habe, und wie seine Metaphorik mich beeindruckt hat.

Nun, da ich diese Zeilen aus dem Evin-Gefängnis heraus schreibe, höre ich davon, wie die Menschen sich auflehnen, insbesondere die Frauen und Jugendlichen. Und ich glaube, dass die Menschen neue Kraft gefunden haben, sich ihres Schicksals anzunehmen.

Ich weiß nicht, was in den kommenden Wochen oder Monaten geschieht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass der Iran nie wieder zu früheren Verhältnissen zurückkehren wird.

Woman, Life, Freedom 

 

Mohammad Rasoulof
Regisseur
* 1972 Schiras, Iran 

Drehte während des Soziologiestudiums erste Kurzfilme. Seine acht Langfilme, u. a. ›Lerd‹ (2017), erhielten internationale Auszeichnungen, fielen im Iran der Zensur zum Opfer. Seine vermeintlich regierungsfeindliche Haltung hat zu einer Reihe von Problemen in seiner Heimat geführt, darunter eine Verhaftung im Jahr 2010, Berufsverbot und 2017 der Entzug seines Reisepasses sowie ein Ausreiseverbot. 2020 Goldener Bär für ›Sheytan vojud nadarad‹ (›Doch das Böse gibt es nicht‹), 2021 online Mitglied der Internationalen Jury der Berlinale. Im Jahr 2022 wurde er erneut verhaftet und wegen vermeintlicher Volksverhetzung verurteilt. 

Statement: Céline Sciamma

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Céline Sciamma zu ›Not a Pretty Picture‹

Als ich mich fragte, welchen Film aus dem Coming-of-Age-Korpus ich wählen sollte, schwankte ich zunächst zwischen einem Film, der mich als Teenager erschüttert hat und einem erschütternden Film über Teenager. Schließlich habe ich mich für ein Werk entschieden, das ich als Teenager gern gesehen hätte: Martha Coolidges Regiedebüt ›Not a Pretty Picture‹. Sie hat ihn 1976 produziert, und er hätte mir schon in den 1990ern begegnen können, tatsächlich erfuhr ich erst 2019 von seiner Existenz. 

Ich wünschte, ich hätte ihn früher gesehen. Als junge Cinephile hätte der Film mir sowohl Wissen über eine Kultur des Missbrauchs als auch über den Widerstand gegen diese Kultur vermittelt und wie mithilfe einer innovativen Handhabung der Filmsprache daraus großartige Kunst entstehen kann. ›Not a Pretty Picture‹ ist den zeitgenössischen Narrativen und den politischen Diskursen rund um den männlichen Blick erschreckend nah. Der Film hat zweifellos einen wichtigen Beitrag zu deren Exegese geleistet. Es freut mich sehr, dass dieses bedeutende Werk nun auf der großen Leinwand zu sehen sein wird. 

 

Céline Sciamma
Regisseurin, Drehbuchautorin
* 1978, Pontoise, Frankreich 

Studierte Literatur in Paris-Nanterre sowie Drehbuch an der Filmschule La Fémis. 2007 Debütfilm ›Naissance des pieuvres‹. Ihr zweiter Spielfilm, ›Tomboy‹, eröffnete 2011 das Berlinale-Panorama und gewann den Teddy Award. Internationale Preise erhielten auch ihre Filme ›Bande de filles‹ (2014) und ›Portrait de la jeune fille en feu‹ (2019). 2021 feierte ihr Coming-of-Age-Drama ›Petite Maman‹ im Berlinale-Wettbewerb Premiere. 

Statement: Martin Scorsese

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© Brigitte Lacombe

Martin Scorsese zu ›Prima della rivoluzione‹

1964 – ich stand gerade kurz vor meinem 22. Geburtstag – hatte ich beim New York Film Festival einen Kurzfilm eingereicht, und so konnte ich mir mit einem Freund Pressevorführungen in der Avery Fisher Hall ansehen.

Dort wurde unter anderem auch ein Werk eines jungen italienischen Regisseurs gezeigt. Und mein Freund meinte: »Der soll gut wirklich sein, lass uns reingehen«.

Und so sah ich zum ersten Mal Bernardo Bertoluccis ›Prima della rivoluzione‹, und ich war überwältigt von Ehrfurcht, Verwunderung, Erstaunen ... übermannt von Gefühlen. Ehrlich gesagt fehlen mir die Worte, um diese Erfahrung zu beschreiben. Und das geht mir bis zum heutigen Tag so.

Es war der Film eines jungen Mannes, in meinem Alter, der von seinem eigenen Leben erzählte, von seiner Welt, genau, wie ich es zu tun versuchte. Nur, dass er es wirklich getan hatte. Er hatte all seine Gefühle, seine Ideen und Konflikte in diesen Film fließen lassen, und so das Wesen seiner Existenz filmisch erfahrbar gemacht. Er hatte einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, zu seinen Referenzpunkten zählten Verdi und Stendhal. Das war eine Welt, die mir komplett fremd war, weshalb es mich umso mehr überraschte, wie tief dieser Film mich berührte. Doch er sprach zu mir durch die Sprache des Kinos. Seine Bilder schienen direkt aus ihm und in die Zuschauer*innen zu fließen. So auch in mich.

›Prima della rivoluzione‹  inspirierte mich ungemein und motivierte mich, etwas Eigenes zu schaffen. Als ich dort saß und den Film zum ersten Mal sah, wusste ich, dass ich eben der Geburt einer neuen Stimme des Kinos beiwohnen durfte, einer Präsenz voller Poesie und Schönheit und absolut erstaunlichem Talent. Dieser Moment hat mich für mein Leben geprägt.

Martin Scorsese
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1942 New York City, USA

Martin Scorsese ist ein Oscar-prämierter Regisseur und einer der einflussreichsten Filmemacher unserer Tage. Zu seinen Werken zählen ›Taxi Driver‹ (1976), ›Wie ein wilder Stier‹ (1980), ›Goodfellas‹ (1990), ›Zeit der Unschuld‹ (1993), ›Casino‹ (1995) und ›The Irishman‹ (2019).
Bei der Berlinale war er mit dem Rolling-Stones-Film ›Shine a Light‹ (Eröffnung 2008) und dem Thriller ›Shutter Island‹ (2010) zu Gast, 2013 widmete die Deutsche Kinemathek ihm und seinem Werk eine Ausstellung.
Scorsese hat auch bei zahlreichen Dokumentarfilmen Regie geführt, darunter ›Italianamerican‹ (1974), ›The Last Waltz‹ (1978), ›Meine italienische Reise‹ (1999), ›George Harrison – Living in the Material World‹ (2011) sowie ›No Direction Home‹ (2005) und ›A Letter to Elia‹ (2010), für die er jeweils mit einem Peabody Award ausgezeichnet wurde. Scorsese ist Gründer und Vorsitzender von The Film Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die sich dem Schutz und der Erhaltung von filmgeschichtlich Relevantem verschrieben hat.

Statement: Aparna Sen

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© Soumilya Datta

Aparna Sen zu ›Aparajito‹

Mit ›Aparajito‹, dem zweiten Teil von Satyajit Rays gefeierter Apu-Trilogie, beginnt die Reise von Apu wirklich – vom Dorf in die Stadt, von der Kindheit in die Adoleszenz, von der Enge des Zuhauses in die Offenheit der weiten Welt. Fast schon symbolisch eröffnet der Film mit den abstrakten Linien von Brückenstreben im Vorbeifahren, unscharf, im Bildvordergrund – eine Aufnahme aus einem fahrenden Zug. Obwohl wir Apu nicht sehen können, ahnen wir doch, dass er da ist. Ray lässt sich und uns Zeit, bis er uns den Jungen zeigt, während wie nebenbei Varanasi, die alte Stadt am Fluss, ins Bild rückt. Wenn wir den noch kindlichen Apu dann endlich zu Gesicht bekommen, spielt der mit seinen neu gewonnenen Freunden, rennt durch die engen Gassen der heiligen Stadt und schlüpft geschickt zwischen den Beinen des im Weg stehenden Bullen hindurch.

Im Laufe dieses einfühlsamen Films wächst Apu heran, muss den Tod des Vaters verwinden und zieht mit seiner Mutter in das ländliche Domizil seines Onkels. Er beginnt zur Schule zu gehen und interessiert sich für Wissenschaft und Geografie, was über den Globus, den er überallhin mitnimmt und die Sonnenuhr, die er im Innenhof des neuen Zuhauses errichtet, bildlich verdeutlicht wird. Die Beziehung zu seiner Mutter wird immer wieder auf die Probe gestellt, bis auch sie stirbt und Apu untröstlich zurücklässt. Aber auch frei. Frei, die Welt auf nun auf eigene Faust zu erkunden.

Ich glaube, ich habe ›Aparajito‹ als meinen liebsten Coming-of-Age-Film gewählt, weil er so komplexe emotionale Bindungen thematisiert, den Schmerz, den sie verursachen, aber auch das Hochgefühl der Freiheit, wenn die Bande gelöst werden. Ein sensibel umgesetztes Meisterwerk, das beim Zuschauer noch lange nachhallt.

Aparna Sen
Schauspielerin, Regisseurin, Drehbuchautorin
* 1945 Kolkata, Indien 

Debütierte 1961 als Schauspielerin in Satyajit Rays ›Teen Kanya‹. Erste Spielfilmregie 1981. Ihre Dramen über das Leben von Frauen sowie religiöse Spannungen in Indien, darunter ›Mr. and Mrs. Iyer‹ (2002), fanden weltweit Beachtung. 2021 entstand ›The Rapist‹, mit ihrer Tochter Konkona Sen Sharma in einer Hauptrolle. Der Film wurde 2022 beim Busan International Film Festival mit dem Kim Jiseok Award ausgezeichnet. 2004 war Aparna Sen Gast beim Berlinale Talent Campus. 

Statement: M. Night Shyamalan

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M. Night Shyamalan zu ›The Last Picture Show‹

Meine Empfehlung ist ›The Last Picture Show‹. Dieser Film bedeutet mir sehr viel. Im Vorführraum meines Kinos hängt ein Plakat davon. Ich sehe es jedes Mal, wenn ich den Projektor anwerfe. Für mich zählt er zu den echten Coming-of-Age-Klassikern. Aus einer echten Hochzeit des Kinos. Er zeigt sehr schön eines der Grundprinzipien des Filmemachens: Jede Szene muss das zeigen, was der gesamte Film behandelt. Er ist, was das betrifft, ein perfekt geschliffener Diamant. Es geht in jeder Einstellung um Figuren in einer Kleinstadt, die mehr wollen, die sich befreien wollen von den Regeln, die sie als Ketten empfinden. Und das ist es doch, was man beim Erwachsenwerden spürt: Regeln, ich habe die Schnauze voll davon. Ich will mich selbst definieren. Und dieser Film erzählt dieses Suchen und Scheitern auf wunderschöne Weise. Formal streng und doch so unbändig, einfach so, als wäre es nichts. Er schafft etwas, von dem ich immer träume: die Integrität der Einstellung zu wahren. Und doch sind die schauspielerischen Leistungen so natürlich und wahrhaftig. Es schmerzt fast, ihnen zuzuschauen, so lebendig und wild sind sie. Diese Verbindung aus formaler Strenge und ungebändigter Darstellung ergibt etwas himmlisch Schönes. Ein wahres Juwel.

M. Night Shyamalan
Regisseur
*1970 Mahe, Indien 

Aufgewachsen in der Nähe von Philadelphia, Filmstudium in New York. War 1999 international erfolgreich mit dem mehrfach Oscar-nominierten Psychothriller ›The Sixth Sense‹, dem weitere Horror- und Mystery-Filme folgten, darunter ›Signs‹ (2002), ›The Visit‹ (2015) und ›Split‹ (2017). 2022 war er Präsident der Internationalen Jury der Berlinale. Zuletzt entstand der Thriller ›Knock at the Cabin‹ (2023). 

Statement: Carla Simón

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© David Ruano

Carla Simón zu ›El espíritu de la colmena‹

»Es ist eine der seltsamsten Geschichten überhaupt, über die zwei großen Geheimnisse der Schöpfung: Leben und Tod. Sie wird Sie sicher faszinieren. Vielleicht schockieren. Oder sogar entsetzen. Wer also lieber seine Nerven schonen möchte, hat jetzt die letzte Gelegenheit … Nun, wir haben Sie gewarnt«. So wird Frankenstein der kleinen Ana vorgestellt, als ein fahrendes Kino in ihr spanisches Dorf kommt. Diese Eingangsrede beschreibt exakt meine Seherfahrung von ›El espíritu de la colmena‹ .

Víctor Erice porträtiert Kindheit als die geheimnisvollste und unheimlichste Phase unseres Daseins. Durch ihre riesigen Augen entdeckt Ana das Leben, wobei sich Realität und Fantasie und die Sphären von Lebenden und Geistern mischen. Man möchte gar nicht, dass Ana erwachsen wird, weil ihre Vorstellungskraft die Welt zu einem aufregenden und rätselhaften Ort macht, obgleich sie in den Wirren nach dem Bürgerkrieg aufwächst.

Licht und Schatten tanzen miteinander und malen eine Geschichte über die Macht des Kinos auf die Leinwand, eine Geschichte, die uns erwachsen werden und unsere eigene Sensibilität entwickeln lässt. Eigentlich könnte das Kino in jeder Coming-of-Age-Geschichte eine Rolle spielen.

Ich muss gestehen, ich habe ›El espíritu de la colmena‹ noch nie auf der großen Leinwand gesehen. Ich freue mich, dies nun endlich nachholen zu können.

Carla Simón
Regisseurin
* 1986 Barcelona, Spanien 

Studierte Audiovisuelle Kommunikation in Barcelona und Kalifornien und besuchte die London Film School. 2015 Teilnehmerin der Berlinale Talents. Wurde dort mit dem Drehbuch zum Langfilmdebüt ›Estiu 1993‹ für die Berlinale Script Station ausgewählt. Der Film gewann 2017 den Großen Preis der Internationalen Jury von Generation Kplus sowie den GWFF-Preis Bester Erstlingsfilm. 2022 Goldener Bär für ›Alcarràs‹. 

Statement: Abderrahmane Sissako

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Abderrahmane Sissako zu ›Touki Bouki‹

Ich habe Djibril Diop Mambétys Werk durch den Film ›Touki Bouki‹ entdeckt, den ich gesehen habe, als ich gerade mein Filmstudium am VGIK in Moskau beendet hatte. Es war ein Schock, ein emotionaler Schock, so wie ich ihn auch erlebt habe, als ich den Film ›Stalker‹ von Andrei Tarkowski zum ersten Mal sah. 

Djibril ist einer dieser Filmemacher, die von dem Bedürfnis angetrieben werden, den Geist, der in ihnen wohnt, herauszulassen. Das geht oft mit einem gewissen Leiden einher, vor allem aber mit einer großen Freiheit oder Verrücktheit. Das ist es, was den Film ›Touki Bouki‹ so elementar macht: zunächst in Bezug auf seine Form, dann in Bezug auf seinen Inhalt, auf seine Bedeutung. 

Für mich bietet die Würdigung, die die Berlinale ihm erweist, die Gelegenheit, an den Menschen Djibril Diop Mambety zu erinnern. Er, der mich immer Papa genannt hat. Was ein Paradoxon war, das nur er beherrschte – denn er war ja älter als ich. Aber ich habe denselben Vornamen wie sein Vater, den er sehr respektierte. 

Djibril ist in erster Linie ein Dichter der Wort- und Lautlosigkeit. Er sprach mit geschlossenen Augen, als ob das, was er sagte, aus einem unsichtbaren Bildschirm käme, von dem er ablas.  

Am besten schauen Sie sich ›Touki Bouki‹ mit geschlossenen Augen an. Vielen Dank.

 

Abderrahmane Sissako
Regisseur, Produzent
* 1961 Kiffa, Mauretanien 

Aufgewachsen in Mali. Filmstudium in Moskau. Lebt seit den 1990ern in Paris. 1997 Documenta-Teilnehmer. Seine Filme, u. a. ›Bamako‹ (2006) und der Oscar-nominierte ›Timbuktu‹ (2014), thematisieren Globalisierung und Exil. 2003 war er Mitglied der Internationalen Jury der Berlinale, 2011 Experte beim Berlinale Talent Campus. Erhielt 2021 den Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste Berlin. 

Statement: Kristen Stewart

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Kristen Stewart zu ›Now and Then‹

In den 1990ern war es beinahe unmöglich, auf eigene Weise »sichtbar« zu sein. In uns tobten unterschiedliche geheime Stürme, die sich doch alle glichen … wenn man ein Mädchen war. Christina Ricci band sich ihre Brüste mit Tape ab, schnappte sich ein Foto ihrer toten Mutter und kämpfte sich durch eine Horde rüpelhafter Jungs, um zu den einzigen Menschen auf der Welt zu gelangen, die sie verstehen. Zu ihren BESTEN FREUNDINNEN … Das war wie ein Schlachtruf. Wie ein weiser Ratschlag. Finde deine Freundinnen. Nur so kannst du existieren. 

›Now and Then‹ fühlte sich an wie eine geheime Welt, die doch vertraut erschien, als würde man etwas AUẞERHALB des Körpers erleben. Ich war überwältigt. Diese Mädchen kämpften mit ihren Körpern, ihrer erwachenden Sexualität, mit zerfallenden Familien und Idealen, mit Kummer und ihren ersten existenziellen Krisen. Sie erleben Freude und Angst und Trauer und fragen sich nebenbei, welchen Jungen man beim Red Rover (dt. Kettenbrechen) am besten auswählt. Ich kann mir keinen intimeren Film über diese Lebensphase vorstellen. Es ist seltsam, diese Erfahrung nun für Außenstehende in Worte fassen zu wollen, denn die Erinnerung an das unteilbare Geheimnis, das wir als unser »Selbst« bezeichnen, lässt mich wieder zwölf Jahre werden. Ich schlage vor, Sie schauen sich den Film einfach an. Sie werden einen Heidenspaß haben.

 

Kristen Stewart 
Schauspielerin 
* 1990 Los Angeles, USA 

2000 Leinwanddebüt. 2002 beeindruckte sie neben Jodie Foster in ›Panic Room‹. International berühmt ist sie seit der ›Twilight‹-Saga (2008–2012). 2010 lief ›Welcome to the Rileys‹ bei der Berlinale. 2015 erhielt sie den französischen Filmpreis César für ›Sils Maria‹ (R: Olivier Assayas). Zuletzt faszinierte sie als [Jean] ›Seberg‹ (2019) und als Princess Diana in ›Spencer‹ (2021), der ihr eine Oscar-Nominierung einbrachte. 2023 ist sie Präsidentin der Internationalen Jury der Berlinale. 

Statement: Tilda Swinton

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© Brigitte Lacombe

Tilda Swinton zu ›Kiseye berendj‹

Ich freue mich zutiefst, dass ich diejenigen mit ›Kiseye berendj‹ bekannt machen kann, die diesen Film noch nicht kennen. Er ist einer meiner absoluten Lieblinge.
Dieser Film wirkt wahre Wunder. Jeder Zuschauende wird auf alchemistische Weise zu einem kleinen Mädchen. Erst auf sich gestellt, vorsichtig, dann gefestigt und couragiert. 
Und wir werden zu ihrer älteren Nachbarin. Zaghaft, von anderen abhängig, kurzsichtig und gebrechlich. Vielleicht werden wir sogar zu einem Sack Reis, der durch ganz Teheran reist, auf totemhafte Weise wertvoll und gefährdet, und doch nahrhaft und voller Versprechen. Diese drei Wesen, sie sind alle von der Güte Fremder abhängig. Und alles drei bekommen die benötigte Hilfe, gehen durch dick und dünn.
Ich verneige mich tief vor Mohammad-Ali Talebi, der uns dieses Meisterwerk geschenkt hat. Es trägt eine Magie in sich, dank derer wir uns in Gesellschaft anderer Wesen wohler fühlen. Und dieser Film weist uns den Weg zu einem erleuchteten Horizont, hinter dem Mitgefühl und Gemeinschaft warten. Dieses Werk erzeugt Hoffnung, Glaube und Liebe; und was kann Kino mehr wollen?

 

Tilda Swinton
Schauspielerin
* 1960 London, UK

Tilda Swintons filmische Karriere begann 1985 mit ›Caravaggio‹ von Derek Jarman. Seitdem hat sie u. a. mit Jim Jarmusch, Lynne Ramsay, Joel und Ethan Coen, Luca Guadagnino, Joanna Hogg, Wes Anderson, David Fincher, Apichatpong Weerasthetakul, Bong Joon-Ho und Pedro Almodóvar zusammengearbeitet. Zudem war sie gern gesehener Gast bei der Berlinale (Panorama, Forum, Wettbewerb), 2009 als Präsidentin der Internationalen Jury. Ihr Wirken wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 2008 mit einem BAFTA und Oscar für ›Michael Clayton‹ und 2020 mit einem BFI Fellowship und dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk. Kürzlich hat sie die FIAF für ihre Beiträge zu Filmerbe und Kinokultur geehrt, zudem erhielt sie den Visionary Award des Academy Museum.

Statement: Wim Wenders

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© Donata Wenders

Wim Wenders zu ›Rebel Without a Cause‹

Für mich ist ›Rebel Without a Cause‹ der archetypische »Coming-of-Age«-Film, und Nicholas Ray der ideale Regisseur für ein solches Unterfangen, geradezu visionär zu Beginn einer weltweiten Jugendbewegung, die von diesem Film mit ausgelöst wurde. 

Rays ganze Empathie gilt seinen jugendlichen Hauptdarstellern, und nur zu gut weiß er, was ihre Sehnsüchte sind, wogegen sie sich auflehnen und wie sehr sie ihre Konflikte mit Kleidung, Gesten oder mit dem Körper ausdrücken. 

Natürlich war James Dean der ideale Schauspieler dafür. 

Als ich Nick Ray einmal auf seine Arbeit mit Dean angesprochen habe und ihn fragte, wie er ihn auf den Film vorbereitet habe, meinte er, nach einiger Überlegung, nur lakonisch: »I taught him how to walk«. 

Ich hielt das nicht für eine Übertreibung. Dean war reine Ausstülpung seines Inneren nach außen, alles, was er zu sagen hatte, zeigte er physisch. 

Es ist eine interessante Übung, in all den Szenen, in denen die jugendliche Gang zu sehen ist, einmal von James Dean weg nur auf Dennis Hopper zu schauen, der immer mitten drin in dem Haufen steckt. Und der lässt seinen Blick nicht einen Moment von James Dean los, wie gebannt »hört« er sozusagen seiner Körpersprache zu. 

Eine neue »Haltung« kommt hier kaum durch Dialog oder den herkömmlichen Generationenkonflikt zur Sprache, sondern ausschließlich durch Neuerfindung von Körperlichkeit, durch eine neue Grammatik und einen neuen Wortschatz, der allein schon von einer Kopfwendung bestimmt ist, wie man eine Zigarette hält oder eben: wie man sich fortbewegt, wie man »geht und steht«. 

 

Wim Wenders 
Regisseur, Produzent
* 1945 Düsseldorf, Bundesrepublik Deutschland 

Wim Wenders gilt als einer der Pioniere des Neuen Deutschen Films der 1970er-Jahre und gehört heute zu den renommiertesten Vertretern des internationalen Gegenwartskinos. Sein Werk umfasst über 50 Spiel- und Dokumentarfilme, darunter vielfach preisgekrönte Spielfilme wie ›Paris‹, ›Texas‹ und ›Der Himmel über Berlin‹. 2000 Silberner Bär für ›The Million Dollar Hotel‹. Auf der Berlinale zuletzt mit den 3-D-Projekten ›Pina‹ (2011) und ›Cathedrals of Culture‹ (2014) sowie 2015 – als ihm der Goldene Ehrenbär verliehen wurde und die Hommage gewidmet war – mit dem Spielfilm ›Every Thing Will Be Fine‹ vertreten. Wim Wenders und die Deutsche Kinemathek kooperieren seit Jahren. 

Statement: Jasmila Žbanić

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Foto: Edvin Kalic

Jasmila Žbanić zu ›Sedmikrásky‹

In Zeiten, in denen Algorithmen uns vorzugeben versuchen, wie man Geschichten erzählen soll und wie Filme auszusehen haben, wirkt ein Film wie ›Sedmikrásky‹ wie ein Befreiungsschlag. Dieses Werk führt eindrücklich vor Augen, dass wir selbst im Angesicht des Totalitarismus nicht verloren sind. Und der Totalitarismus von heute hat viele Gesichter: Er kommt daher in der bunten Tarnung von Kommerz und Profitstreben, gehüllt in die Ideologie des freien Marktes. Was für ein erfrischender Kontrast es da ist, sich von ›Sedmikrásky‹ betören zu lassen. Věra Chytilová kombiniert Stil und Rhythmus mit einer Filmsprache, die der Logik einer inneren Energie folgt – einer lebendigen, jungen und verrückten Energie. ›Sedmikrásky‹ spielt auf anarchische und revolutionäre Weise mit Poesie, Humor und Schönheit und entlarvt die moralische Verlogenheit der Gesellschaft. Ein Film von zeitloser Schönheit, den man immer wieder ansehen möchte. 

 

Jasmila Žbanić
Regisseurin
* 1974 Sarajevo, Jugoslawien/Bosnien und Herzegowina 

Jasmila Žbanić hat ein Studium an der Akademie für Darstellende Künste in Sarajevo absolviert. Vor ihrer Filmkarriere arbeitete sie u. a. als Puppenspielerin bei Bread and Puppet in Vermont. 1997 war sie Mitbegründerin der Künstlervereinigung Deblokada. Sie schreibt und produziert seitdem Dokumentarfilme, Videoinstallationen und Kurzfilme und führt Regie. Ihr Spielfilmdebüt ›Grbavica – Esmas Geheimnis‹ erhielt 2006 den Goldenen Bären der Berlinale. Ihr jüngstes Werk, ›Quo Vadis, Aida?‹ (2020) feierte in Venedig Premiere, wurde für einen Oscar und zwei BAFTAs nominiert und wurde u. a. mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. 

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