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Ein Grenzer kontrolliert den Pass eines Mannes, neben dem eine Frau steht

›Genosse Münchhausen‹ (BRD 1962), Regie: Wolfgang Neuss, Quelle: Deutsche Kinemathek

»Stell’ Dir vor, es geht und keiner kriegt’s hin.«

Inhalt

»Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut’ mach ich mir Gedanken«, dieser Satz von Wolfgang Neuss begleitet mich schon sehr lange, wie andere Sätze auch. Sein Kredo »Zweiter werden!« ließ mich schon zu der These versteigen, dass das die Welt retten könnte, wenn ich mir abends meine Gedanken mache. Ich habe Neuss erst entdeckt, als er bereits der Freak war (»das Drogenwrack« – BILD u.ä.), als er versuchte, die Tucholsky'sche Treppe hochzugehen: 1. Stufe Reden, 2. Stufe Schreiben, 3. Stufe Schweigen. 
 

Mir wurde die Aufgabe zuteil, westdeutsche Nachkriegsfilme zu sichten, und das war eine schwere Aufgabe. Der westdeutsche Nachkriegsfilm – ein Graus. Es war schwer, seichte Unterhaltung, bescheuerte Komödien, Vertriebenenschicksale ohne Hintergrund, Rassismus als Exotik getarnt, anzusehen. Aber halt, es gab zwei Perlen darunter. Den einen zeige ich diesmal, den anderen vielleicht ein andermal.
 

Wolfgang Neuss ist in über 50 Filmen als Schauspieler zu sehen, gemeinsam mit seinem Bühnenpartner Wolfgang Müller (»Die beiden Wolfgangs«). Fast ausschließlich in Nebenrollen, als das Salz in der etwas faden Suppe, und ihre Auftritte sind wahrlich ein Vergnügen und ein Grund, die Filme anzuschauen (zum Beispiel ›Das Wirtshaus im Spessart‹). Die beiden haben für ihre Rollen oft mehr Gage bekommen als die Hauptdarsteller, sie waren echte Superstars.

 

  • ›Genosse Münchhausen‹, BRD 1962, Regie: Wolfgang Neuss
    Quelle: Deutsche Kinemathek

Das ist ihm nun so gar nicht gelungen, aber im übertragenen Sinne hat er es doch konsequent verfolgt, das (wie er es nannte) »Unbekanntwerden«. „Eine Frage schwirrt mir durchs Hirn: Kann man so geschickt schweigen, daß man verstanden wird?« Er wurde nicht unbekannt und redete bis zum letzten Atemzug, aber er wurde vom hochbezahlten Kabarettisten und Schauspieler zum Sozialfall. Vom Publikumsliebling zum »Volksfeind« (BILD). Und machte immer den Eindruck, als wäre das genauso gewollt.
 

Von einem fantasierenden Luftstrategen von einem ominösen »Forschungszentrum West« überredet, mit einem im Westen notgelandeten sowjetischen Düsenjäger Luftaufklärung zu betreiben, stürzt Oskar Puste als »Wetterbeobachter« über der Sowjetunion ab, schlägt sich als Maisbauer, Busfahrer, Schachtrainer, Packer, Holzfäller, Fischer, Fußballer und Gepäckträger durch, danach geht es nach Moskau und dann fast zur Venus, aber letztendlich doch nur nach Sylt und wieder zurück auf den halben Morgen Land, aber diesmal auf den anderen. Vom LPG-Leistungsfanatismus über die allgegenwärtige Spionage bis hin zur bemannten Raumfahrt kommt alles auf den Tisch, was die Boulevardblattschlagzeilen der Zeit zu bieten hatten. 
 

Die ersten zehn Minuten: ein Feuerwerk an Wortspielen und kabarettistischen Einlagen, die das neuss’sche Talent im Umdreieckendenken zeigt. Er redet gar nicht schnell, doch kommt man kaum hinterher und er klingt so wahnsinnig nett, naiv, sympathisch. ›Genosse Münchhausen‹ ist ein Film seiner Zeit. Der Kabarettist Wolfgang Neuss, der neben Regie und Drehbuch auch die Hauptrolle übernahm, befasst sich in Anlehnung an die Münchhausen-Legende mit der deutschen Teilung. Eine groteske Episodenreise in Schwarz-Weiß, bei der immer auch ein Stück Brecht’sches Lehrtheater durchschimmert. »Viel lieber hätte ich den Film Helmut Käutner überlassen, der auch eine Zeit lang interessiert war, ganz plötzlich aber habe Käutner geglaubt, das Unternehmen politisch nicht mehr verantworten zu können, und drehte lieber den ›Traum von Lieschen Müller‹.« (Wolfgang Neuss laut DER SPIEGEL 4/1962 vom 23.01.1962)

 

Der Film ›Genosse Münchhausen‹ (BRD 1962, Regie: Wolfgang Neuss) ist am 24.4.23 um 19 Uhr im Kino Arsenal in der Reihe »Filmspotting: ArchiVistas« zu sehen. Die Mitarbeiter*innen des Filmarchivs stellen in dieser Reihe anlässlich von 60 Jahre Deutsche Kinemathek ihre persönlichen Filmschätze vor, mal identitätsstiftend, mal kritisch, mal humorvoll – ein ganz persönlicher Blick auf die Schätze des Filmarchivs.

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Olaf Saeger

Seit einem Praktikum im Fotolabor einer Werbeagentur von Filmmaterial fasziniert. Studium der Kunstgeschichte, Studium der Film- und Fernsehwissenschaft. In einem besetzten Kino zur Freude der Besetzer den Projektor wieder in Gang gesetzt. Den Filmrauschpalast in der Kulturfabrik gegründet. Jahrelang als Filmvorführer gearbeitet. Filmkunsttechnik, einen Verleih für Projektionsequipment betrieben. Jahrelang die analogen Kopien für die Retro bei der Berlinale betreut. Als Archivar in der Kinemathek den DEFA-Filmversand gestemmt. Nun für DEFA und SDK Versand zuständig.

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