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Ein junger Mann liegt auf seinem Bett und liest ein Buch, neben ihm sitzt eine ältere Frau und näht.

›Sugar Cane Alley‹, Frankreich 1983, Regie: Euzhan Palcys © René Marran, JMJ Internatonal Pictures

Die Schwellenerfahrungen des Erwachsenwerdens

Inhalt

Jung und wild im Herzen | Teil 2

Mit dem Erwachsenwerden, dem In-diese-Welt-Hineinwachsen, geht stets die Konfrontation mit Regeln und Konventionen einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, eines politischen Systems einher. Coming-of-Age-Filme widmen sich häufig genau jenen Momenten, in denen Figuren Regeln infrage stellen und dagegen mal mehr, mal weniger, mal kurz, mal von Anfang bis Ende der Erzählung rebellieren. Welche Erfahrungen und Stimmungen dabei in den Fokus rücken, kann sehr vielfältig ausfallen. Ein paar Themen und Perspektiven zeigen sich ihrem Publikum aber immer wieder und laufen in den beiden wesentlichsten Fragen nach der eigenen Identität zusammen: Wer bin ich und wer will ich sein?

Eine junge Frau liegt mit dem Rücken im Bett, ein junger Mann liegt links von ihr und betrachtet sie.

›Die innere Sicherheit‹, D 2000, Regie: Christian Petzold

»Ich bin jetzt erwachsen«

In welchem Moment eines Lebens beginnt das Bedürfnis oder die Pflicht erwachsen sein zu wollen oder zu müssen? Erwachsen zu sein geht mit Verantwortung, aber auch mit Privilegien einher, schließlich prägen Verbote und Vorschriften die Kindheit oft mehr als andere Lebensphasen. »Ich bin jetzt erwachsen«, erwidert die kleine Inga in Arūnas Žebriūnas’ ›The Beauty‹ (1966) ihrer Mutter selbstbewusst, nachdem diese ihr erklärt, dass sie zu jung sei, um ›Die drei Musketiere‹ zu lesen. Sich nicht abgeben damit, dass er stets als zu klein für so viele lohnenswerte Erlebnisse erachtet wird, will sich auch Joey in ›Der kleine Ausreißer‹ (1953) von Ray Ashley, Morris Engel und Ruth Ortkin. Der Blick durch die Augen eines Kindes wird oft als frisch und ohne viele Vorurteile, und die Konfrontation mit der Welt der Erwachsenen als aufwühlend erzählt, so auch in ›Der Geist des Bienenstocks‹ (1973) von Víctor Erice.

Wie prägend das Aufwachsen in Umfeldern sein kann, die von sozialer Diskriminierung geprägt sind, zeigen Filme wie Euzhan Palcys ›Sugar Cane Alley‹ (1983), ›Ein Sack Reis‹ (1996) von Mohammad-Ali Talebi oder auch Shane Meadows’ ›This is England‹ (2006). Konfrontiert mit der Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen, sind auch die Kinder aus Nachkriegs-Filmen, die im Zuge des italienischen Neorealismus entstanden, etwa Vittorio De Sicas ›Die Kinder beobachten uns‹ (1943) oder Roberto Rossellinis ›Deutschland im Jahre Null‹ (1948).

Die Emotionalität eines Kindes im Angesicht weltlicher Verhältnisse wird in jenen Filmen zur Aufforderung, Gesellschaft und Geschichte mit einem empathischen Blick zu betrachten. Filmschaffende sozialistischer Länder setzten (prä-)adoleszente Protagonist*innen oft zum Ausdruck eines Gefühls oder einer Kritik am System ein, da kindliche Figuren leichter der Zensur entgingen. Die Darstellung scheinbarer Naivität birgt für das erwachsene Publikum das Potenzial, selbst einen Schritt zurückzugehen und die Welt noch einmal aus kindlichen oder jugendlichen Augen zu betrachten.

Eine junge Frau steht inmitten einer innerstädtischen Brache, im Hintergrund sieht man Hochhäuser.

›Ostkreuz‹, D 1991, Regie: Michael Klier

»There is a big world out there«

Erwachsenwerden bedeutet in den meisten Fällen, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst oder für andere Personen aus dem eigenen Umfeld. Viele Protagonist*innen sehen sich mit der Frage konfrontiert, wohin ihre Reise nach einem alles verändernden Konflikt mit Autoritäten oder nach dem Abschluss einer Lebensphase gehen soll. Oft ist ein Aufbruch mit dem Drang nach neuen Erfahrungen verbunden – wie im Bildungsroman, dem literarischen Pendant zum Coming-of-Age-Film. Die Freiheit ruft meist lauter als die Pflicht und verwehrt sich einer sicheren Zukunftsperspektive. Ein Ortswechsel kann durch die Chance auf eine Ausbildung oder einen neuen Beruf auch soziale Aufstiegshoffnungen wachsen lassen, so in ›Aparajito‹ (1956), ›Manila‹ (1975) und ›Lady Bird‹ (2017).

Manchmal ist zunächst nur der Ausbruch aus einem Umfeld entscheidend, das der adoleszenten Hauptfigur zu eng oder gar unerträglich geworden ist, während das Ziel offen bleibt; in Filmen wie ›Sie küssten und sie schlugen ihn‹ (1959), ›Easy Rider‹ (1969), ›Die letzte Vorstellung ‹ (1971), ›Touki Bouki‹ (1973), ›Vogelfrei‹ (1985) und ›American Honey‹ (2016) heißt es daher: Hauptsache weg. Im Fall von ›Die innere Sicherheit‹ (2000) von Christian Petzold kehrt sich dieses Bedürfnis genau um, denn die 15-jährige Jeanne sehnt sich in ihrem aus Abenteuer und Flucht bestehenden Leben nach Stabilität. In diesen Erzählungen geht der Coming-of-Age-Film eine Verbindung mit dem Road-Movie ein; hier wie da sind Personen auf der Suche nach ihrem eigenen Weg, und die innere Reise steht deutlich vor den zwischenmenschlichen Konflikten im Fokus der Handlung. 

Coming-of-Age-Filme thematisieren jedoch nicht nur neue Aufbrüche, sondern auch die Nachwirkungen von vergangenen Bewegungen, etwa indem sie wie in ›Geschwister‹ (1997), ›Gölge‹ (1980), ›Futur Drei‹ (2020), ›The Hill Where Lionesses Roar‹ (2021) oder ›Sonne‹ (2022) die Erfahrung postmigrantischer Charaktere ins Zentrum stellen oder wie in ›Ostkreuz‹ (1991), ›Herzsprung‹ (1992) oder ›Als wir träumten‹ (2015) Ost-West- bzw. Nachwende-Biografien in Bewegung thematisieren. Die Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenenalter wird gleichzeitig zur Schwelle zwischen der Kultur der Eltern und der dominanten Kultur bzw. des politischen und sozialen Systems des Ortes, an dem die Figuren hauptsächlich aufwachsen. Die Vergangenheit der Eltern und die Position der Protagonist*innen innerhalb einer Gesellschaft werden zu einem wichtigen Teil ihrer Identitätssuche.

Vier blonde jugendliche Mädchen liegen gemeinsam in einem schmalen Bett und lächeln in die Kamera, über ihnen hängt ein Kruzifix an der Wand, über das mein BH geworfen ist.

›The Virgin Suicides‹, USA 1999, Regie: Sofia Coppola

»You are tearing me apart«

Dass wir als Menschen in verschiedenen sozialen Umfeldern oft unterschiedliches Rollenverhalten einnehmen, wird besonders in Geschichten mit adoleszenten Figuren deutlich. Manchmal kann ein verändertes Umfeld befreiend wirken und eine Person im Reifungsprozess dabei unterstützen, sich selbst besser kennenzulernen und auszudrücken. Oftmals kann es aber durch die dominante Ordnung auch repressiv wirken – ganz prägnant in Settings wie Heimen und Internaten.

Auch Schulcliquen, Banden oder das eigene Zuhause repräsentieren Orte der physischen und mentalen Gewalterfahrung, wie in ›Sie küssten und sie schlugen ihn‹ (1959), ›Typhoon Club‹ (1985), ›Lärm und Wut‹ (1988) oder ›The Virgin Suicides‹ (1999). Hier leitet der dramaturgische Bogen, ob in komödiantischem oder ernsthaftem Ton, letztlich immer dazu an zu beobachten, wie der oder die Protagonist*in mit dem Druck von außen umgeht. Kann er oder sie dem Umfeld entkommen und gestärkt daraus hervorgehen, um den eigenen Willen durchzusetzen bzw. den größten Gefahren zu entkommen? Muss sich der Charakter zwischen zwei Lebenspfaden entscheiden? Was erzählt der Generationskonflikt über den Zustand der Gesellschaft?

»You’re tearing me apart«, ruft James Dean als Jim Stark in ›…denn sie wissen nicht, was sie tun‹ (1955) von Nicholas Ray, als seine Eltern über seinen Kopf hinweg ihre Erwartungen diskutieren. Finden die Figuren ihren eigenen Weg, hinaus aus der Repression und hinein in die Emanzipation? Oder führen jene Erfahrungen dazu, dass sie hinter einem normativen Rollenverhalten ihr wahres, fragiles Ich verstecken müssen?

Drei junge Männer sitzen auf einem Baugerüst, der mittlere hat sich eine Zigarette in seinem Mund.

›Typhoon Club‹, JP 1985, Regie: Shinji Sōmai

»When you grow up, your heart dies«

Ein ebenso zentrales Thema der Adoleszenz ist die Entdeckung der Sexualität, der erste Sex, die erste romantische Liebe, der erste Herzschmerz. »When you grow up your heart dies«, stellt eine der Schüler*innen in John Hughes ›The Breakfast Club‹ (1985) fest und scheint damit gleich zwei Erfahrungen anzusprechen: den Schmerz der ersten großen Enttäuschung in der Liebe und die generelle Aufregung und Intensität, die einen begleitet, wenn man Situationen und Gefühle zum ersten Mal erlebt. Für viele Charaktere wird die Suche nach der großen Liebe zum wichtigsten Thema ihrer adoleszenten Reise und endet in Erfüllung, für andere wird die schmerzhafte Enttäuschung zu einer Erfahrung, deren Verarbeitung ebenso zum Teil des Reifungsprozesses gehört.

Die Sehnsucht nach dem ersten sexuellen Kontakt kann wie in ›Splendor in the Grass‹ (1961), ›Not a Pretty Picture‹ (1976) oder ›The Virgin Suicides‹ (1999) auf den moralischen Vorstellungen der Eltern aufbauend verhandelt und als schmerzhafte Erfahrung erzählt werden. Bei weiblichen Figuren schwingt implizit oder explizit die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft mit, so in ›Hungerjahre‹ (1980), ›Juno‹ (2007), ›Never Rarely Sometimes Always‹ (2020) oder ›Precious‹ (2009). Und während FLINTA*-Personen zum Opfer sexualisierter oder homophober Gewalt werden wie in ›Meine Schwester‹ (2001), ›Boys Don’t Cry‹ (1999), ›Tomboy‹ (2011) oder ›Typhoon Club‹ (1985), können Figuren aller Geschlechter – man denke nur an ›Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‹ (1981), ›Kids‹ (1995), ›Just another Girl on the I.R.T.‹ (1992) oder ›Minyan‹ (2020) – den Folgen sexuell übertragbarer Krankheiten ausgesetzt werden.

Die Repräsentation von sexuellen und romantischen Erfahrungen im Coming-of-Age-Film fällt enorm vielfältig aus – diese Vielfalt sollte allerdings erst im 21. Jahrhundert zunehmende Sichtbarkeit erlangen.

Bianca Jasmina Rauch

Die erfolgreiche Journalistin und Bloggerin studierte Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien und La Sapienza – Università di Roma. Sie promoviert an der Filmakademie Wien über ›weibliche Identitätssuche im Coming-of-Age-Film‹.

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