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Verdunkelter Kinosaal, auf der Leinwand der funkelnde Berlinale-Bär aus dem Berlinale-Vorspann

© Erik Weiss

Prägende Erfahrungen – auf und vor der Leinwand

Inhalt

Rainer Rother, Leiter der Berlinale Retrospektive und Annika Haupts, Programmkoordinatorin, sprechen im Interview über Auswahl und Auswählende der Retrospektive »Young at Heart – Coming of Age at the Movies«.

  • Annika Haupts und Rainer Rother, © Erik Weiss

Was gab den Anstoß zur diesjährigen Themenwahl?

Das Thema »Coming of Age« schien uns sehr aktuell angesichts der Berichterstattung über die besonders belastende Situation von Jugendlichen während der Pandemie. Hinzu kommen die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine – schwerwiegende Probleme, die gerade junge Menschen mit Wucht treffen. Wir wollten den Fokus auf die Lebens- und Erfahrungswelten von Heranwachsenden richten. Und der Retrospektive damit vielleicht auch neue Zuschauer*innenschichten erschließen. Sie sind eingeladen, in den Kinos Filmen zu begegnen, die nicht ausschließlich eine düstere Zukunft prognostizieren.

Bei der Auswahl geht die Retrospektive neue Wege. Wie ist die Idee zum kuratorischen Konzept entstanden?

Coming-of-Age-Filme erzählen häufig sehr persönliche Geschichten. Nicht selten sind es Debütfilme, in die eigene Erfahrungen der Regisseur*innen einfließen. Das hat uns dazu bewogen, diesmal auch die Auswahl unter persönlichen Gesichtspunkten treffen zu lassen. Und so haben wir Filmschaffende, die der Berlinale und der Deutschen Kinemathek verbunden sind – »Freunde und Familie« gewissermaßen –, gebeten, uns ihren Lieblingsfilm zum Thema zu nennen. Es sollten zudem Empfehlungen an ein jüngeres Publikum sein. Damit möchten wir zum Ende der Pandemie das Signal setzen, dass das Kino eine Geschichte hat, aber auch eine Zukunft.

Eine junge Frau steht in eine dicke Decke gehüllt auf einem Feld.

›Vogelfrei / Sans toit ni loi‹, F 1985, Regie: Agnès Varda
© CINE TAMARIS

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

So eine Anfrage ist für die Betreffenden natürlich eine Überraschung, wenn auch eine schöne, und schon aus Zeitgründen nicht immer leicht zu erfüllen. Da baut man von vornherein auf gewachsene Beziehungen – sowohl auf Seiten der Kinemathek wie der Berlinale. Carlo Chatrian hat als Festivaldirektor von sich aus viele Kontakte angebahnt, und auch mit den Sektionsleiter*innen standen wir in engem Kontakt. Wir haben im Übrigen und erfreulicherweise nur ganz wenige Absagen erhalten. Allen Befragten machte es offensichtlich Freude, ihre Empfehlungen abzugeben und dafür auch eine Begründung zu formulieren, sei es in einem schriftlichen Statement oder in einer Videonote. Selbst Kristen Stewart, die als Jurypräsidentin ja erst spät gefragt werden konnte, sagte spontan zu.

Was für eine Konstellation hat sich dann bei den Auswählenden ergeben?

Wir haben uns bemüht, das Verhältnis der Geschlechter wie der Herkunft auszubalancieren, wobei Letztgenanntes nicht immer zu gewährleisten war. Am Ende beteiligten sich 28 Kurator*innen aus 16 Ländern, wobei die USA mit sechs, Deutschland mit vier, Frankreich mit drei sowie der Iran und Spanien mit zwei Filmschaffenden mehrfach vertreten sind. Einzelne Vertreter*innen kommen u. a. aus Belarus, Indien, Mauretanien, den Philippinen und der Ukraine, sodass manche Kinematografien zum ersten Mal in einer Retrospektive der Berlinale präsent sind. Mit Mohammad Rasoulof konnte sich sogar einer der im Iran inhaftierten Regisseure an der Auswahl beteiligen. Sein Statement zu Werner Herzogs Kaspar-Hauser-Film ›Jeder für sich und Gott gegen alle‹, den Rasoulof im iranischen Fernsehen sehen konnte, wird sein Produzent Farzad Pak, der den Kontakt herstellte, bei der Vorführung verlesen.

Eine junge Frau liegt mit verzerrtem Gesicht im Arm eines jungen Mannes, beide sind nackt.

›Manila / Maynila: Sa mga kuko ng liwanag‹, PH 1975, Regie: Lino Brocka
© Courtesy The Film Foundation / World Cinema Project

Sind die Filmvorschläge durchgängig aufgrund persönlicher Seherfahrungen gemacht worden?

Ja, zum größten Teil. Lav Diaz berichtete uns, dass er ›Manila / Maynila: Sa mga kuko ng liwanag‹ während seines Studiums im Kino gesehen und sich danach mit seinen Freunden die Nacht um die Ohren geschlagen und den Film intensiv diskutiert hat. Mit ›Manila‹, sagt er, habe er den Film als diskursives Medium entdeckt. Insofern war der Film ein wichtiger Meilenstein in seiner Biografie. Kristen Stewart war »überwältigt« von ›Now and Then‹ und seinem Modell, wie man als Mädchen zu eigenen Bedingungen »sichtbar« wird. Auch Martin Scorsese spricht im Zusammenhang mit ›Prima di riviluzione / Vor der Revolution‹ von »Überwältigung«, ihn hat erstaunt, was für intensive Gefühle ein Film zu evozieren in der Lage ist. Für ihn ein epiphanesker Moment, der ihn für sein »Leben geprägt« hat. Céline Sciamma hingegen hätte sich gewünscht, ihr wäre ›Not a Pretty Picture‹ schon früher begegnet als 2019. Sie hätte ihn als Teenager gut gebrauchen können. 

Ist trotz der subjektiven Kriterien eine Auswahl zustande gekommen, die für die Darstellung des Themas »Jungsein und Erwachsenwerden« im internationalen Kino in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als repräsentativ gelten kann?

Die Auswahl lotet auf jeden Fall die Spannbreite, die Möglichkeiten wunderbar aus. Die Extreme sind alle vertreten. Wir waren nicht darauf gefasst, dass sich das Programm so breit aufstellt. Es kommen in ihm sehr unterschiedliche Motive zum Tragen. Es kann in den Filmen um ein vierjähriges Mädchen gehen, so im iranischen Beitrag ›Ein Sack Reis / Kiseye Berendj‹. Oder um eine 32-jährige Frau, gespielt von Juliette Binoche in ›Drei Farben: blau / Trois couleurs: bleu‹. Es kann um etwas gehen, das entscheidend für eine ganz bestimmte Altersgruppe ist. Es kann aber auch viel stärker ein sozialer Gesichtspunkt sein – Armut etwa oder Diskriminierung. Das zeigt, wie universell das »Coming of Age« ist, weil es von sehr unterschiedlichen sozialen und historischen Entwicklungen affiziert wird. Zugleich behauptet es sich aber immer als individuelle Erfahrung, die für das weitere Leben prägt.

Ein junges Mädchen zeigt ihrem Vater ein Buch, der rechts neben ihr steht, und schaut ihn an.

 ›Auf das, was wir lieben / À nos amours‹, F 1983, Regie: Maurice Pialat
© 1983 Gaumont / France 3 Cinéma. Collection Gaumont.

Wie stellen sich soziale Fragen im familiären Zusammenleben dar?

In den US-amerikanischen Filmen ist die Familie überwiegend dysfunktional! Die Generationen können nicht miteinander kommunizieren. In ›… denn sie wissen nicht, was sie tun / Rebel Without a Cause‹ versucht James Dean als Jim Stark ja durchaus, mit seinen ja durchaus netten und wohlwollenden Eltern zu sprechen. Aber sie verstehen ihn ganz einfach nicht! Und das ist in ›Ferris macht blau / Ferris Bueller’s Day Off‹ ganz genauso. Die Generationen können nicht miteinander sprechen. Schon die europäischen Filme machen das anders. Zu den besten Szenen in ›Auf das, was wir lieben / À nos amours‹ gehört ein intensiver Dialog zwischen Vater und Tochter, eine sehr aufmerksame, erwachsene Kommunikation. Auch das kleine Mädchen und der alte Mann in dem litauischen Film ›The Beauty / Gražuolė‹ nehmen sich gegenseitig ernst im Gespräch. In ›Sugar Cane Alley / Rue Cases-Nègres‹, der in Martinique spielt, hat der kindliche Protagonist intensive Beziehungen zu einem als Mentor eingeführten alten Mann wie auch zu seiner Großmutter. 

Kann denn das Bildungswesen die Protagonist*innen etwas auffangen?

Die jugendlichen Reaktionen auf Bildungsangebote werden ganz unterschiedlich dargestellt – vergleicht man einmal die »Bildungsromane«, die ›Apus Weg ins Leben / Aparajito‹ und ›Sugar Cane Alley / La Rue Cases Nègres‹ erzählen, mit dem titelgebenden Schulschwänzer in ›Ferris macht blau / Ferris Bueller’s Day Off‹. In den westlichen Gesellschaften hat man von allem zu viel, hier wird Bildung als Gut gar nicht mehr wahrgenommen. Andernorts ist Bildung das Einzige, das jemandem die Chance eröffnet, den sozialen Aufstieg zu verwirklichen.

Ein Junge steht auf einer Brücke und hält zwei brennende Molotowcocktails in seiner Hand.

›Lärm und Wut / De bruit et de fureur‹, F 1988, Regie: Jean-Claude Brisseau
© Les Films du Losange

Ein weiteres Konfliktfeld dürfte die jugendliche Sexualität sein …

Auf jeden Fall. Und dies schon in den frühesten Filmen. ›Fieber im Blut / Splendor in the Grass‹ von 1961 handelt im Grunde nur von Sex. Dass die Protagonistin sich aufgrund der herrschenden Moralvorstellungen und des gesellschaftlichen Drucks in eine psychiatrische Klinik begeben muss, um mit ihrem Leben klar zu kommen, ist schon sehr drastisch. Auch zeigt der Film bereits eine männliche Übergriffigkeit, die sich aus einem Erwartungsdruck innerhalb der eigenen Peergroup ergibt. Das ist etwas, was später in ›Not a Pretty Picture‹ auch die Regisseurin Martha Coolidge thematisiert, aber auf ganz andere Weise. Sie setzt sich mit ihrer selbst erlittenen Vergewaltigung auseinander – Jahrzehnte später und in Form eines Reenactments, bei dem sie die schauspielerische Darstellung dokumentarisch begleitet. Tatsächlich ist das Erwachen der Sexualität in den Filmen oft mit Gewalt verbunden. Beides kann sehr nahe beieinander liegen. In ›Typhoon Club / Taifū kurabu‹ ist der männliche Übergriff im Klassenzimmer, der parallel zur entfesselten Naturgewalt eines Wirbelsturms inszeniert ist, nur schwer erträglich.

Und wer von prominenten Kuratorinnen und Kuratoren wird bei der Retrospektive leibhaftig zugegen sein?

Tatsächlich werden recht viele ihren Wunschfilm in den Kinos persönlich präsentieren. Wim Wenders wird den Eröffnungsfilm ›… denn sie wissen nicht, was sie tun / Rebel Without a Cause‹ vorstellen, der ihm sehr nahesteht, nicht zuletzt weil ihn mit dessen Regisseur Nicholas Ray eine besondere, auch private Beziehung verband. Angekündigt haben sich außerdem Nora Fingscheidt zu ›Und täglich grüßt das Murmeltier / Groundhog Day‹ und Maren Ade bei ›Vogelfrei / Sans toit ni loi‹. Aus dem Ausland erwarten wir u. a. Jasmila Žbanić zu ›Tausendschönchen / Sedmikrásky‹, Nadav Lapid zu ›Lärm und Wut / De bruit et de fureur‹ und Niki Karimi zu ›Wo ist das Haus meines Freundes? / Khane-ye doust kojast‹. Und es wird sicherlich noch die ein oder andere Überraschung geben. Wie beim Thema selbst ist nicht immer alles vorhersehbar, und es kann sich noch einiges entwickeln …

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Annika Haupts

Filme schaut sie nicht nur privat, sondern auch für die filmhistorischen Sektionen der Berlinale, deren Retrospektive in der Deutschen Kinemathek sie als Programmkoordinatorin betreut. Als Ausgleich für die Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Spielfilm im Rahmen ihrer Doktorarbeit, forscht die passionierte Turnschuhträgerin auch zum Thema Sneaker im Film.

Rainer Rother
Rainer Rother

Vom Studium der Geschichte zum Künstlerischen Leiter der Deutschen Kinemathek und des filmhistorischen Programms der Berlinale – ihn rufen Regisseur*innen an, wenn sie etwas über ihr Frühwerk wissen wollen.

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