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Eine ältere Dame liegt im Bett und sieht voller Wut auf zwei Junge Frauen, die auf der rechten Bildseite an ihrem Bett stehen

›The Spiral Staircase‹, USA 1945, Regie: Robert Siodmak

›The Spiral Staircase‹ weckt die Lust am Sehen

Inhalt

Seit zwei Wochen schaue ich auf ein weißes Blatt und versuche, einen Text zu verfassen, der Lust auf den Kinobesuch zu Robert Siodmaks ›The Spiral Staircase‹ machen soll. Meine Schreibblockade liegt nicht an meiner Auswahl, sondern hängt eher an der Frage, wie man in VoD-Zeiten jemanden dazu bewegen kann, ins Kino zu gehen und sich diesen Film Noir-Klassiker aus dem Jahr 1945 auf großer Leinwand anzusehen?

Gewichtige Argumente gibt es da genug. Aber ob die reichen? Vielleicht beginne ich einfach auf der Materialseite, deren Existenz gemeinsam mit den technischen Errungenschaften Kamera und ab 1929 Ton erst das Fundament für die künstlerische Arbeit bilden oder eben auch zu einer kongenialen Symbiose führen können. Der Film liegt im Verleih der Deutschen Kinemathek nicht als 4K Digitalisat, sondern als eine 35mm Kopie in der Originalfassung vor. Spuren der Vergänglichkeit sind hier nicht wegretouchiert, sondern werden zu einem faszinierenden Begleitprogramm, auf das man sich einlassen sollte. Während des schweren Surrens der Filmrolle, die mit 24 Bildern pro Sekunde durch den Projektor in der Vorführkabine läuft, zeugen auf der Leinwand Schrammen, ausgebesserte Bildrisse, Laufstreifen und Überblendzeichen sowie Kratzer auf der Tonebene von der Gebrauchsgeschichte der Kopie. 

Ein weiteres gewichtiges Argument für den Kinobesuch ist der Regisseur Robert Siodmak. Am 10. März jährte sich der 50. Todestag des in Dresden geborenen Filmemachers. Zweimal wird er in seinem Leben ins Exil gehen müssen. Zunächst von 1933 bis 1939 nach Paris und später 1939-1951 nach Hollywood. Es sind Lehrjahre, die sein Profil als Regisseur schärfen und ihn Filme erschaffen lassen, die noch heute als Klassiker gelten. Doch zurück zum Anfang. Der semidokumentarische Film ›Menschen am Sonntag‹ (1929/30), der auf einer Idee seines Bruders Curt beruhte und an dem u.a. Billy Wilder, Eugen Schüfftan und Fred Zinnemann mitwirkten, wird für Robert Siodmak der Durchbruch als Regisseur. Er bekommt einen Vertrag bei der UFA und wird dort bis zur Machtergreifung Hitlers im Zusammenspiel u.a. mit Erich Pommer als Produzent und mit Schauspielstars wie Emil Jannings oder Heinz Rühmann acht Filme realisieren.

Ein junger Mann hält eine junge Frau im Arm.

›The Spiral Staircase‹, USA 1945, Regie: Robert Siodmak

Als Siodmak aufgrund seiner jüdischen Wurzeln nach der Machtergreifung Hitlers keine berufliche Chance mehr für sich sieht, geht er im April 1933 ins Exil nach Paris. Sein Bruder Curt flüchtet nach London und später nach Hollywood. Schaut man auf das Œuvre, das Robert Siodmak 1933 in Deutschland hinterlässt, so ist es vielmehr von einer Vielfältigkeit als von Homogenität geprägt. Arbeiten wie ›Abschied‹ (1930) oder ›Brennendes Geheimnis‹ (1933) zeugen von einer Experimentierfreude, was Genre und Art des Geschichtenerzählens betreffen. Paris ist ein Neubeginn, vor allem sprachlich. Beruflich kann er anknüpfen und arbeitet sich von 1933 bis zur Flucht nach Amerika kontinuierlich an die Regiespitze. Es ist die Arbeit im französischen Exil, die ihn Schauspielführung und den szenischen Fluss lehren.

Mit einer 35mm Kopie seines letzten französischen Erfolges ›Pièges‹ im Gepäck und dem Vorschuss eines holländischen Produzenten in der Tasche begibt sich Robert Siodmak gemeinsam mit seiner Frau am 31. August 1939 auf die Überfahrt nach New York. Von da aus geht es weiter nach Hollywood, wo sie von Curt Siodmak, der bereits als Drehbuchautor bei Paramount arbeitet, in Empfang genommen werden. Erst nach zwei Jahren nimmt Universal Robert Siodmak unter Vertrag. Es ist die Zeit, in der die Studios alles diktieren und so folgen Fingerübungen und B-Movies. Ab Mitte der 1940er bis Anfang der 1950er beginnt schließlich eine künstlerisch herausragende Schaffensphase. Nicht zuletzt aufgrund der Zusammenarbeit mit wegweisenden Produzent*innen wie etwa Hitchcocks Assistentin Joan Harrison oder Mark Hellinger entstehen Klassiker wie ›Phantom Lady‹ (1944) oder ›The Killers‹ (1946), die ihm später den Ruhm als stilprägenden Film Noir-Regisseur einbringen. 

Zwei Frauen und zwei Männer am Bett einer älteren Dame mit langem Zopf.

›The Spiral Staircase‹, USA 1945, Regie: Robert Siodmak

Das dritte und beste Argument für den Kinobesuch ist natürlich der Film selbst, der schon nach den ersten Minuten einfach die Lust am Sehen zelebriert und die Filmleidenschaft weckt. 1945 wird Robert Siodmak von Universal an RKO Radio Pictures verliehen, um dort die Adaption des erfolgreichen Romans ›Some Must Watch‹ (1933) der Autorin Ethel Lina White zu verfilmen. Mel Dinelli wird damit beauftragt, das Drehbuch zu verfassen. Er und sein Team sorgen für eine entscheidende Änderung. Die junge Protagonistin Helen (Dorothy McGuire) wird mit einem Stimmverlust versehen, der als Grundlage für neue Spannungsbögen dient. Als Produzent fungiert der ehemalige Drehbuchautor Dore Schary, unter dessen Leitung Alfred Hitchcock, Orson Welles sowie Frank Capra große Erfolge feiern. Die Handlung spielt in Neuengland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Serienkiller versetzt eine Kleinstadt in Schrecken. Seine Opfer sind meist junge Frauen mit einer Behinderung. Als nächstes scheint er es auf die nach einem traumatischen Kindheitserlebnis verstummte Helen abgesehen zu haben. Die junge Frau arbeitet in einem Herrschaftshaus für die bettlägerige Witwe Mrs. Warren (Ethel Barrymore). Als ein Sturm aufzieht und der Killer in das Haus eindringt, beginnt eine Nacht des Grauens.

Schon die erste Sequenz im Hotel ist eine perfekte Inszenierung Siodmaks, in der er die Verbindung von Kino und den widersprüchlichen Aspekten des Sehens deutlich macht. Auge und Kamera gehen eine Symbiose ein, die lust- und leidvolles Sehen mit sich bringen. Die Kamera gleitet durch die kleine Öffnung eines Vorhangs mitten hinein in eine Stummfilmvorführung. Mehrere Perspektivwechsel lassen uns das Geschehen im Raum und auf der Leinwand erfassen. Rezeption, Realität und Fiktion verschmelzen hier. Kurz ruht die Kamera auf der Protagonistin Helen. In einer halbnahen Einstellung und gut ausgeleuchtet, wird sie als Objekt des Blicks in die Handlung eingeführt. Ihr Gesicht ist dabei aber auch gleichzeitig emotionales Spiegelbild der Handlung auf der Leinwand. Von hier aus fährt die Kamera Richtung Raumdecke und nach einem Schnitt befinden wir uns im Zimmer einer jungen Frau und werden Zeugen ihrer Ermordung. Hier treiben Siodmak und Kameramann Nicholas Musuraca das Spiel mit der Ambivalenz des Sehens zu einem perfiden Höhepunkt. Die Kamera fährt nah an die Pupille des Mörders heran. Auge in Auge mit dem Bösen geht Siodmak noch einen Schritt weiter. Ein Perspektivwechsel, bei der sich das Opfer in der Iris des Täters wiederspiegelt. Mehrmals nutzt Siodmak diese Technik und lässt den Zuschauer zum passiven Komplizen am Mordgeschehen werden. Und noch etwas fällt auf: Empfinden wir aus der eigenen Hilflosigkeit heraus die Nähe zum Opfer als unerträglich, wird der Todeskampf fern des Gesichtes und Körpers inszeniert. Die Kamera fokussiert die Hände, Geräusche deuten den Überlebenskampf an. Der Mörder, der sich erst zum Schluss zu erkennen gibt, wird mit einem spezifischen musikalischen Motiv (Musik: Roy Webb) eingeführt. Eine Erkennungsmelodie, die den Zuschauer in angstvolle Erwartungen versetzen soll.

Eine junge Frau in weißer Kleidung sieht direkt in die Kamera.

›The Spiral Staircase‹, USA 1945, Regie: Robert Siodmak

Die Quelle des Bösen und Schreckens in dieser Geschichte ist die Familie, ein Sujet, das Siodmak immer wieder aufgreift, und der Ort, den man Zuhause nennt. Das viktorianische Herrschaftshaus der Familie Warren spiegelt im Interior den Niedergang einer Epoche und Familie bereits wider. Alles ist überladen. Große Räume sind mit Teppichen und schweren Möbeln zugestellt und scheinen von alten Glanzzeiten zu träumen. Sie bieten weder Schutz noch Behaglichkeit. Robert Siodmak baut sich hier einen idealen Raum, um mit Mitteln des Film Noir wie Tiefenschärfe, Low-Key-Beleuchtung und speziellem Bildaufbau die psychologischen Untiefen und dysfunktionalen Beziehungen der Familienmitglieder offenzulegen. Ein Haus, in dem die darwinistische Losung gilt, dass nur der Stärkere überlebt, kann nur Personen hervorbringen, die sich an dieser Rollenerwartung abarbeiten. Die Abneigung der Stiefbrüder Albert (George Brent) und Steve Warren (Gordon Oliver) ist nicht nur verbal zu hören, sondern in der distanzierten Anordnung ihrer Begegnungen, der Körperhaltung und der verständnislosen Blicke visualisiert. Tiefe Verletzungen aus der Vergangenheit und neue Wunden, die sich aus dem Buhlen um die Gunst der Sekretärin Blanche ergeben, werden so deutlich. 

Die junge Helen ist der Kontrapunkt zu allem. Sie ist die Lichtfigur, die mit ihrer hellen Schürze und zarten Gestalt für das neue und frische Leben steht. Ihr Charakter passt nicht in dieses Haus und zu dieser Familie. Ihre Verlorenheit im dysfunktionalen Hausgefüge inszeniert Siodmak, indem er sie oft durch Flure und Räume irren lässt. Ihr durch ein Trauma verursachter Stimmenverlust lässt sie jedoch zum Spielball vor allem der männlichen Protagonisten werden. Hier herrscht keine Kommunikation auf Augenhöhe, sondern eher wie mit einem Kind, das man beschützen muss. In seinem Bildaufbau platziert Robert Siodmak sie meist in der Mitte des Handlungsgeschehens. Helen ist visuell präsent, aber zur passiven Beobachterin degradiert. Jeder scheint zu wissen, was das Beste für sie ist. Vor allem der fachliche und auch emotionale Ehrgeiz des jungen Doktor Parry (Kent Smith) sticht ins Auge. Seine Liebe ist geprägt von Überfürsorglichkeit und der Bestimmtheit, sie zu heilen. Eine psychologische Schieflage, die nicht gutgehen kann. 

Eine junge Frau geht mit einer Kerze in der Hand eine große Wendeltreppe herab.

›The Spiral Staircase‹, USA 1945, Regie: Robert Siodmak

Die Matriarchin im Haus, Mrs. Warren, ist wie Helen in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Sie ist schwer krank und kann daher das Bett nicht mehr verlassen. Das Bett als Symbol, in dem geboren und gestorben wird, und das als Keimzelle für die Familie gilt. Siodmak lässt es fast den ganzen Raum einnehmen. Mrs. Warren ist vom aktiven Leben physisch getrennt und wirkt in ihrem Nachtgewand wie eine Herrscherin aus einer vergangenen Zeit. Desillusioniert und verbittert scheint sie sich aus der Welt zu verabschieden und wird gleichzeitig zum Orakel für den Horror der Nacht. Ethel Barrymore spielt diese am Lebensende befindliche Frau mit unheimlicher Präsenz und macht die Ambivalenz zwischen Stärke und Schwäche fühlbar. Sie wird für ihre Darstellung für einen Oscar nominiert und findet nur lobende Worte für die Zusammenarbeit mit Robert Siodmak. 1949 werden sie bei der Dostojewski Verfilmung ›The Great Sinner‹ erneut zusammenarbeiten. 

›The Spiral Staircase‹ bezieht seine Faszination nicht zuletzt auch aus dem Schauspielensemble und seiner Führung durch den Regisseur Robert Siodmak. Jede noch so kleine Figur ist mit Bedacht und Liebe zum Detail inszeniert und setzt passende Nuancen. Seit ›Menschen am Sonntag‹ scheint er ein Talent für die Entdeckung und Arbeit mit noch unbekannten Schauspielern zu haben. So entlockt er Dorothy McGuire in ihrer vierten Hauptrolle eine ganz außergewöhnliche Darstellung, die im Gedächtnis bleibt. Ein Jahr später verhilft er Burt Lancaster mit ›The Killers‹ zum Durchbruch. Zum Schluss sei noch die titelgebende Wendeltreppe erwähnt. Robert Siodmak inszeniert sie als Allegorie auf das Leben und die psychologischen Abgründe der Familie. Begleitet von einem dumpfen, metallenen Geräusch führt sie von den üppig ausgestatteten Privaträumen der Familie tief nach unten in den Keller. Die Treppe als Fluchtort und gleichzeitig als Falle. Man kann ihr nur nach oben oder unten entkommen. Am Ende des Filmes entscheidet sich alles auf diesen Stufen und nur eine Person wird befreit daraus hervorgehen.

Quellen / Zitate: 
Wolfgang Jacobsen/Hans Helmut Prinzler (Hg.) Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood Argon Verlag, Berlin 1998, S. 121.

Robert Siodmak, Hans C. Blumenberg (Hrsg.): Zwischen Berlin und Hollywood. Erinnerungen eines großen Filmregisseurs.
Goldmann Verlag München 1980

Deborah Lazaroff Alpi: Robert Siodmak: A Biography, With Critical Analyses Of His Films Noirs And A Filmography Of All His Works
McFarland & Company, Inc., Publishers; Jefferson, North Carolina and London 1998

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Diana Kluge

Bali, Hawaii, Kanada, Neuseeland... Wenn sie nicht gerade mit dem Rucksack unterwegs ist, findet man sie meist im Kino. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften und BWL in Leipzig arbeitete sie für nationale und internationale Filmfestivals und Kulturorganisationen. Seit 2015 ist sie im Filmverleih der Deutschen Kinemathek. Nebenbei hat sie gerade ihr erstes Kinderbuch veröffentlicht und kuratiert Programme.

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