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Eine junge Frau trinkt aus einem Glas

›Die Kleine Vera‹, UdSSR 1988, Regie: Wassilij Pitschul
Quelle: Deutsche Kinemathek

»Wo immer wir leben, es ist provisorisch«

Inhalt

Dieses Jahr wird die Deutsche Kinemathek 60 Jahre alt. Wir begeben uns auf Spurensuche ins Archiv und präsentieren Perlen der Filmgeschichte und unserer Sammlung. Anke Hahn, Mitarbeiterin im Filmarchiv, erinnert sich anlässlich des Filmspottings von ›Überall ist es besser wo wir nicht sind‹ (BRD 1989) an Filme der 1980er-Jahre, die sie persönlich geprägt haben.

Zwei Menschen in dunklen Mänteln laufen durch eine Berliner Brachlandschaft. Man sieht sie nur von hinten.

Otto Sander und Curt Bois in ›Der Himmel über Berlin‹, BRD 1987, Regie: Wim Wenders
© 1987 Road Movies – Argos Films
Mit freundlicher Genehmigung der Wim Wenders Stiftung – Argos Films

Berlin in den späten 1980ern: Wir litten an der Ereignislosigkeit des Lebens und der Geschichte. Wir ahnten nicht, dass wir in Kürze im Mittelpunkt einer historischen Umwälzung stehen würden, die Berlin für Jahre ins Zentrum der Weltöffentlichkeit katapultieren würde. Bis Berlin zum Hipster-Hotspot wurde, bestimmten Brachen das Stadtbild und symbolisierten perfekt das Provisorische vieler hier gestrandeter Existenzen.

Kein anderer Film fing das Vor-Mauerfall-Berlin besser ein als ›Der Himmel über Berlin‹ (1987) von Wim Wenders. Curt Bois steht auf dem weiten Gelände des Potsdamer Platzes und erzählt von den Glanzzeiten des Ortes, bevor der Krieg alles zerstörte. Niemand im Kino ahnte, dass er schon quasi aus der Vergangenheit zu uns sprach, denn kurz darauf wurde der Potsdamer Platz zur Baustelle eines neuen Berlin. Kurzzeitig war in dieser Staubwüste angrenzend an den Flohmarkt am Reichpietschufer der sogenannte »Polenmarkt« angesiedelt, der auch in Michael Kliers Film eine Rolle spielt.

Zwei Männer sitzen in einem Auto, der Mann auf der Rückbank legt dem Mann auf dem Fahrersitz eine Schlinge um den Hals

Miroslaw Baka und Jan Tesarz in ›Ein kurzer Film über das Töten‹, PL 1988, Regie: Krzysztof Kieslowski
Quelle: Deutsche Kinemathek

Der Darsteller des Jerzey, Miroslaw Baka, hatte sich schon im selben Kinojahr sowohl als kaltblütiger Mörder als auch als klägliches Opfer der Todesstrafe in ›Ein kurzer Film über das Töten‹ (1987) von Krzysztof Kieslowski auf sich aufmerksam gemacht. Dieser radikale Film, der in schonungsloser und realistischer Weise die einmal gesetzesbrecherische und einmal  gesetzlich angeordnete Tötung eines Menschen schildert, machten Regisseur und Darsteller über Nacht berühmt. Jerzey in Michael Kliers Film könnte die bessere Version des Jacek aus Kieslowskis Film sein, jemand, den die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Ferne antreibt. 

Eine ältere, eher altmodisch gekleidete Frau blickt auf eine jüngere mit kurzem, modernem Haarschnitt

›Die Kleine Vera‹, UdSSR 1988, Regie: Wassilij Pitschul
Quelle: Deutsche Kinemathek

Kurz vor der Maueröffnung schwappten eine ganze Reihe Filme aus dem »Ostblock« in die Kinos, deren Anti-Held*innen durchaus Identifikationspotenzial boten, auch wenn sie an einem anderen Gesellschaftssystem litten. ›Die Kleine Vera‹ (1988) von Wassilij Pitschul zeigte uns, dass das Lebensgefühl junger Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gar nicht so anders war: ein Gefühl trister Stagnation und Perspektivlosigkeit, dem sich nur mit Verweigerung eines angepassten Lebens begegnen ließ. Selbstverständlich waren die Grenzen der Selbstverwirklichung abseits der politischen und gesellschaftlichen Normen in den kommunistischen Diktaturen um vielfaches enger gezogen.

Mann lehnt an ein Auto. Auf dem Rücksitz sitzt eine junge Frau.

›Stranger than Paradise‹, USA/D 1984, Regie: Jim Jarmusch
Quelle: Deutsche Kinemathek

Die USA versprachen im Gegensatz dazu Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten. Amerika ist deshalb auch Evas Ziel, die in Jim Jarmuschs stilbildendem Independent-Klassiker ›Stranger than Paradise‹ (1984) aus Ungarn nach New York reist, um ihren Cousin Willie zu besuchen. Zusammen mit Willies Freund Eddie lassen sich die drei durch einen ereignislosen Alltag treiben, zuerst in New York, dann auf der Reise im Auto nach Florida. Wiewohl heiterer als die wenige Jahre darauf in Europa gedrehten Filme mit ihren »lost« Held*innen, stand Jim Jarmuschs Werk vielen jungen Filmemacher*innen Pate.

Eine junge Frau sitzt in einer Fabrik an einem Tisch mit einer Stulle und liest.

Kati Outinen in ›Das Mädchen aus der Streichholzfabrik‹, FIN/SWE 1989, Regie: Aki Kaurismäki
© Pandora Film Medien GmbH

Zeitgleich trieb auch der finnische Regisseur Aki Kaurismäki die Handlungsarmut in seinen lakonischen Sozial-Dramödien auf die Spitze. Seine Figuren stehen in schweigenden Nicht-Beziehungen zueinander und leiden als Kapitalismusverlierer an der Monotonie des Alltags. Kati Outinen spielte 1989 in ›Das Mädchen aus der Streichholzfabrik‹ das einsame Mauerblümchen Iris ohne einen Funken Eitelkeit. Sie hatte alle Sympathien auf ihrer Seite, als sie schließlich die gefühlskalten und nur an Geld interessierten Mitmenschen mit Rattengift umbringt.

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Anke Hahn

Liebte alte Filme in schwarz-weiß und gerne auch stumm schon vor ihrem Studium der Germanistik und Philosophie, lang bevor sie im Filmarchiv der Deutschen Kinemathek für den Verleih solcher Schätze für Filmvorführungen sorgte. Mit Leidenschaft entwickelt sie Filmprogramme für Festivals, Kinos und Streaming-Angebote.

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