Zurück zur Magazin-Startseite deutsche-kinemathek.de
Buchdeckel

Max Mack und Ewald André Dupont: ›Die zappelnde Leinwand‹. 1916, Buchdeckel (Ausschnitt)

Zeugnisse der frühen deutschen Filmpublizistik

Inhalt

Die Frühzeit des Films war zugleich die Entstehungszeit der Filmpublizistik. An diese Anfänge erinnert Karin Herbst-Meßlinger von der Redaktion Publikationen der Deutschen Kinemathek im Rahmen von ArchiVistas.

Im Zuge der Entwicklung des auf Jahrmärkten und in Gasthöfen präsentierten »Kinos der Attraktionen« zum narrativen Film, dessen längere, anspruchsvollere Formate zunehmend in eigens zu diesem Zweck errichteten Lichtspielhäusern präsentiert wurden, wuchs auch das allgemeine Interesse an Informationen zu den neuen »Films« (wie der Plural damals noch hieß). Eine Fülle von Zeitschriften, Büchern und kurzen Abhandlungen aus den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, die sich mit ästhetischen, technischen und soziologischen Aspekten der frühen Filmkunst beschäftigen, werden in der Fachbibliothek der Deutschen Kinemathek verwahrt und erinnern daran, wie das Schreiben und Publizieren in diesem Bereich begonnen hat. 

Die erste deutsche Zeitschrift, die sich erklärtermaßen dem Film widmete, erschien bereits ab 1907 in Düsseldorf: ›​Der Kinematograph‹ (Untertitel: ›Organ für die gesamte Projektionskunst‹) versorgte seine überwiegend zur Filmbranche zählende Leserschaft mit Informationen zu filmtechnischen Neuerungen und kurzen Inhaltsbeschreibungen neuer Filme; daneben gehörten auch Rechts- und Zensurfragen zum Spektrum dieser bis 1935 erscheinenden Wochenzeitschrift. 

Ab April 1908 gab der Verleger und spätere Kinobetreiber Karl Wolffsohn in Berlin die ›Lichtbild-Bühne‹ heraus, das ›Fachorgan für das Interessengebiet der kinematographischen Theaterpraxis‹. Die 1909 darin veröffentlichten ›Kino-Kritiken‹ von Paul Lenz-Levy gelten als die ersten deutschen Filmkritiken überhaupt. Zentrales Anliegen Lenz-Levys ebenso wie anderer Kritiker jener Zeit war es, eine regelmäßig ausgeübte Filmkritik einzuführen: »Inhalt und Qualität der Films, die Art, in der sie vorgeführt werden, die mehr oder minder glückliche Wahl der begleitenden Musik, die Tonbild-Arrangements müssen endlich einmal eine kritische Würdigung erfahren, die mit dem Waschzettel-System der bisherigen sogenannten Filmbesprechungen aufräumt.«         

»Zwei Dinge gibt es auf dieser Welt, über die sich absolut nicht streiten läßt. Das sind die Films und der Geschmack.« (E. A. Dupont in: ›Die zappelnde Leinwand‹, 1916)

Im Gegensatz zur bisherigen Praxis der damaligen Fachzeitschriften plädierte Lenz-Levy dafür, nicht nur »einen Überblick über den beabsichtigten Inhalt« der Filme zu geben, sondern auch über den »durch die mehr oder minder große Geschicklichkeit des Aufnahme-Regisseurs […] erzielten.« Seine Hinweise auf »Fehler […] ästhetischer und technischer Natur« richteten sich insbesondere an Regisseure und Kinobesitzer. Die ›Lichtbild-Bühne‹ wurde 1940 mit dem ›Film-Kurier‹ fusioniert, 1945 wurde ihr Erscheinen eingestellt. Eine Reihe anderer früher Filmzeitschriften überdauerte deutlich kürzer; zu ihnen zählten beispielsweise die ›Erste Internationale Film-Zeitung‹ (1909–1920), ›Der Komet‹ (1910) und die ›Erste internationale Kinematographen-Zeitung‹ (1911). 

Mit Beginn der 1910er-Jahre änderten sich die Produktionsweise und Vertriebsstrukturen für Filme ebenso wie das vor allem in Großstädten schnell wachsende Kinopublikum, zu dem immer mehr auch das sogenannte Bildungsbürgertum gehörte. Schriftsteller wie der Österreicher Egon Friedell (›​Prolog vor dem Film‹, 1912) oder der ungarische Philosoph Georg Lukács (›Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos‹, 1913) entwarfen erste Ansätze zu einer Theorie des Films als einem Phänomen der Moderne, auch in Abgrenzung zur Literatur und zum Theater.

In Deutschland lieferten die Regisseure Max Mack und Ewald André Dupont mit ihrer 1916 veröffentlichten Schrift ›Die zappelnde Leinwand‹ eine erste Übersicht der wichtigsten Arbeitsbereiche der damaligen Filmproduktion. In humorvoll-kritischem Ton ist darin bereits die Rede vom Film als der »kapitalisierten Phantasie«, die »Millionen Werte von Land zu Land rollen läßt«; aber auch vom Glück des am Rand der Erschöpfung agierenden Regisseurs, immer wieder »aus dem atmenden lebenden Menschenmaterial neue Träume seines Willens gestalten zu können.«

»Sollte es aber nicht an dem allgemeinen langsamen Erfassen von Neuem liegen, daß das Wesentliche an der Kinokunst überhaupt noch nicht erkannt ist?« (Emilie Altenloh, 1914)

1912 veröffentlichte der Filmenthusiast und spätere Galerist Herbert Tannenbaum den Band ›Kino und Theater‹, in dem er konstatierte, die zeitgenössische Presse habe die Pflicht, »durch Einführung einer regelmäßigen und eingehenden Filmkritik auf die Beachtung künstlerischer Gesichtspunkte hinzuwirken. Sie muß das Urteil des Publikums durch Hinweise auf Fehler und Besserungsmöglichkeiten zu stützen […] suchen.« Nicht mehr Regisseure und Kinobesitzer also, sondern das Kinopublikum sollte ab jetzt der Bezugspunkt einer professionellen Filmkritik sein. 

Tatsächlich wandten sich in Deutschland bereits seit 1907 Vertreter der Kirche, der Lehrer- und Ärzteschaft und der Justiz öffentlich gegen Filme, die als »anstößig« oder als niveaulos empfunden wurden. Ganz anders als beispielsweise in Frankreich, wo dergleichen Kritik kaum geübt wurde, forderten die Anhänger der sogenannten Kinoreformbewegung in Deutschland u. a. weitreichende Zensurmaßnahmen sowie den Einsatz des neuen Mediums im Sinne der »Volksbildung«. 

Zentrales Organ der Kinoreformbewegung war von ihrer Gründung im März 1912 bis zu ihrer Einstellung 1915 die Zeitschrift ›Bild und Film‹; sie wurde herausgegeben von der 1909 gegründeten Lichtbilderei GmbH in Mönchengladbach, einer vom »Volksverein für das katholische Deutschland« getragenen frühen kirchlichen Einrichtung mit Filmbezug. Zu den gegenüber künstlerischen Neuerungen aufgeschlossenen Autorinnen und Autoren von Bild und Film gehörten Hilda Blaschitz und Malwine Rennert, die als erste deutsche Filmkritikerinnen gelten. Insbesondere Rennert lieferte mit ihren Artikeln erste Beiträge zu einer auf filmästhetische Fragen ausgerichteten Kritik. In dem italienischen Film ›Padre‹ (dt.: ›Vater‹, Regie: Dante Testa, 1913) entdeckte sie Anfang 1913 begeistert den Beweis, »daß ein Kinodrama möglich ist als Kunstwerk, das den Gebildeten entzückt und auch auf die Massen eine starke Wirkung ausübt.«

»Es ist vollkommen irrig zu glauben, daß die Kinokritik einen erzieherischen Wert hat.« (E. A. Dupont, in: ›Die zappelnde Leinwand‹, 1916)

Mit ihrer 1913 an der Universität Heidelberg eingereichten und im Jahr darauf veröffentlichten Analyse ›Zur Soziologie des Kino‹ (sic) – der ersten geisteswissenschaftlichen Doktorarbeit zu einem Filmthema in Deutschland – verfolgte die junge Emilie Altenloh (1888–1985) einen sozialwissenschaftlichen Ansatz bei der Betrachtung der zeitgenössischen Filmlandschaft und des Kinopublikums. Grundlage der Untersuchung war eine Befragung von Teilen der Bevölkerung von Mannheim über ihre Gewohnheiten beim Kinobesuch sowie die Auswertung der Ergebnisse nach Altersgruppen und sozialen Schichten.

Daneben geht Altenloh auch auf die sich entwickelnde filmische Fachpresse ein, deren Hauptthema, nämlich die allseits geforderte Steigerung des Niveaus von Kinodarbietungen, sie in »sonderbarem Gegensatz« zu den parallel verbreiteten Werbebroschüren und Annoncen vor allem für die zeitgenössischen Sensationsdramen sieht. Als kuriose Beispiele führt sie dabei Slogans an wie »Der Schrei nach dem Lebensglück dargestellt unter persönlicher Lebensgefahr des Darstellers« oder – dialektgefärbt – »Die Morphinisten sind spannender wie die weiße Sklavin, interessanter wie Versuchungen der Großstadt und aufregender wie das gefährliche Alter«.

Nicht zuletzt durch die Gründung des in Berlin erscheinenden ›Film-Kurier‹ am 31. Mai 1919 erfuhr die deutsche Filmkritik eine deutliche Stärkung ihres Einflusses. Für die von dem Filmpublizisten Alfred Weiner herausgegebene ›Tageszeitung für Film-Variete-Kunst-Mode-Sport-Börse‹ – so der Untertitel – schrieben bald bedeutende Redakteure wie Willy Haas, Hans Feld und Lotte Eisner. Deren stilprägende Filmkritiken und Feuilletonartikel standen programmatisch auf den ersten beiden Seiten der Zeitung, aber auch Beiträge zu technischen Entwicklungen der Film- und Kinotechnik, die sich eher an ein Fachpublikum richteten, waren regelmäßig enthalten. Im September 1919 wurde zudem die erste Ausgabe des ›Illustrierten Film-Kurier‹ verkauft: eine Sammlung von mit Fotos ausgestatteten Inhaltsbeschreibungen aktueller Filme, die schnell zum erfolgreichsten Programmheft an den Kinokassen wurde. 

Am Ende der 1910er-Jahre zeichnete sich bereits die Blütezeit ab, die die deutsche Filmpublizistik in den folgenden Jahren erleben sollte. Immer auch geprägt von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Umständen, begleitet diese Disziplin inzwischen die Entwicklung des Films auf der ganzen Welt. Dazu hat nicht zuletzt die in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsene Bedeutung der Film- und Medienwissenschaft beigetragen. In die Tradition des Publizierens zu Film- (und Fernseh)themen reiht sich auch die Kinemathek ein: Angefangen mit dem vom Gründer und früheren Leiter Gerhard Lamprecht von 1967 bis 1970 veröffentlichtem Kompendium ›Deutsche Stummfilme 1903–1931‹, veröffentlicht das Haus seither kontinuierlich Publikationen unterschiedlicher Art, darunter Monografien, Ausstellungskataloge und Begleitbände zu den von der Kinemathek kuratierten Berlinale-Retrospektiven.

Karin Herbst-Meßlinger

hat Literatur-, Theater- und Filmwissenschaft studiert, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin und an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie mehrfach am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin als Lehrbeauftragte tätig. Als Redakteurin, (Mit-)Herausgeberin und Autorin wirkt sie in der Deutschen Kinemathek an Publikationen über Filmthemen mit. 

Seite teilen via: