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Ein Mädchen und hinter ihr ein Junge halten verängstigt Ausschau nach etwas in der Luft.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Ėlem G. Klimov; Quelle: Bildstörung, © 1985 Mosfilm

»Man darf vor dem Schrecklichen nicht schamhaft die Augen niederschlagen...«

Inhalt

Ein verletztes Mädchen auf einer Bahre vor einem brennenden Haus, um es herum Soldaten.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

Am 9. Dezember 2020 habe ich nicht ahnend, mit was ich konfrontiert werde, zwei DEFA-Kopien von ›Idi i smotri‹ (›Komm und sieh‹) mit jeweils acht Akten auf dem Doppelsichtungstisch in der Kinemathek für ein Kino »befundet«. Dieser Vorgang bedeutet, dass ich immer die gleichen Akte der beiden Kopien parallel starte, durch Zahnräder am Polygon vorbei durch den Tonabnehmer laufen lasse und letztendlich auf zwei kleinen Bildschirmen nebeneinander sichte und kontrolliere. Wo sind Laufstreifen, Schrammen, einkopierte Fehler, wo gibt es Tonprobleme und Ähnliches? Am Ende geht es darum: Welche Kopie ist die bessere und kann sie im Kino überhaupt vorgeführt werden? Und: In welchem Zustand kommt die Kopie wieder zurück? Eine Arbeit, die theoretisch auf klaren rationalen Parametern aufgebaut ist.

Nicht so bei ›Komm und sieh‹. Ohne Kinopublikum, war ich in dem kleinen Archivraum, der dem Gesehenen kaum angemessen war, allein gelassen mit dem enormen Eindruck, den der Film bei mir hinterlassen hatte.

Ein Feldweg mit einem Mann mit amputierten Beinen, eine Hitlervogelscheuche und Soldaten

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

Der Film basiert lose auf der Romanvorlage ›Chatynskaja povest‹ (›Die Erzählung von Chatyn‹) aus dem Jahr 1972 von Ales Adamowitsch. Die Handlung spielt im Jahr 1943 in der Sowjetunion, im heutigen Gebiet von Belarus, und schildert den Zweiten Weltkrieg aus Sicht des jungen Mannes Florja, der sich den Partisanen anschließen will. Die Gräueltaten der Deutschen an der Zivilbevölkerung werden in epischer Breite geschildert. Darüber hinaus führt er vor Augen, was kriegerische Umstände mit Menschen verursachen. Der Versuch von Regisseur Elem Klimov, einen antifaschistischen Film zu drehen, wurde von der Zensur immer wieder torpediert: zu viel Naturalismus, Simplifizierung, abstrakter Humanismus. So lauteten die Kritikpunkte. Die Arbeiten dauerten mit Unterbrechung von 1977 bis 1984 an, der Film kam 1985 in die Kinos.
Als wir Mitarbeiter*innen des Filmarchivs der Kinemathek ermuntert wurden, Titel für das Filmspotting zu nennen, musste ich nicht lange überlegen. Februar 2023 – der Einmarsch Russlands in die Ukraine jährt sich zum ersten Mal. Einen sowjetischen Kriegsfilm, und sei es auch ein Anti-Kriegsfilm, zum Jahrestag des 24. Februars zu zeigen – ist das überhaupt zumutbar? Ist das nicht anmaßend? Noch dazu ein Film über die Gräuel deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges? Darf ich kriegerische Spielfilmbilder auswählen, während wir gleichzeitig mit Kriegsbildern aus der gegenwärtigen Realität auf allen Kanälen umgehen müssen?

Soldaten mit der roten Flagge in einem Waldabschnitt.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

Für uns sind es nur Abbilder, für andere ist und/oder war es Alltag. Es gab also eine gewisse Zurückhaltung meinerseits, ›Komm und sieh‹ vorzuschlagen. Bedenken waren da, dass es zu negativen politischen und kulturästhetischen Diskussionen führen könnte, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Unterhaltungen mit Menschen in meinem Umfeld zeigten unterschiedliche Auffassungen dazu. Sie reichten von »Großer Film!« über »Damals im Kino, ich weiß noch... verstörend!« bis hin zu »Ich würde mich eher hüten, den Ukraine-Konflikt als Aufhänger für die Vorführung zu nennen.« Dieser letzte Kommentar beschäftigte mich, spornte mich letztendlich aber an, diesen Film zu wählen. Kinokuratierung muss eine Haltung einnehmen. Es ist nicht immer nur der Filminhalt, um den es geht, wenn über Film gesprochen wird. Seine Vorführung und dessen Kontext sind enorm wichtig. Und wenn der Zeitpunkt der Programmierung, das Thema, die Sprache, der Inhalt oder aktuelle Bezüge zu Kritik führen, zu Gesprächen, zum Anstoß, zu Annäherung oder Reibung, umso besser. »Be sand not oil« sagte einst Amos Vogel, Begründer des legendären »Cinema 16« in New York. Er zitierte damit Günter Eichs ›Wacht auf‹: »Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!« Der Film wird also als filmische Spiegelung von Krieg und Kriegsbildern genau jetzt gezeigt, wo er vielleicht auch am meisten schmerzt. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin eröffneten in diesem Jahr mit einem Live-Stream in die Ukraine. Der Präsident Selenskyj stellte die Frage, die auch das Kino als Kunstform schon immer umgibt: »Kann sich Kunst aus der Politik heraushalten?« Nein, sie darf es gar nicht.

Ein Junge bekommt eine Waffe an die Schläfe gedrückt.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

›Komm und sieh‹ soll genau jetzt im Mittelpunkt stehen. Die aktuelle politische Weltlage bildet den Rahmen für seine Vorführung. In der aktuell laufenden »Woche der Kritik« und ihrer Auftaktveranstaltung »Cinema of Care« wurde viel über die Fürsorge für den Film diskutiert. Wer kümmert sich denn ums Kino? Material- und bestandstechnisch wird das in der Archivarbeit getan, kuratorisch in der Kinoarbeit, analytisch in der Filmkritik. Aber kümmert sich Film vielleicht auch um uns? Und wie können schreckliche Bilder Fürsorge betreiben?

Verweigert ›Komm und sieh‹ genau diese Fürsorge, weil letztlich das erlösende Moment, das im Film allgemein immer wieder gesucht und auch erbracht wird, fehlt? Es ist ein Kriegsfilm, dem jegliches Pathos verwehrt wurde, er lässt uns erschüttert in der Realität zurück. Niemand ist Held*in, es gibt keine Gewinner*innen. Kein Tod ist heroisch. Hier hat das Publikum unerträgliche Bilder zu ertragen und muss damit umgehen. Trotz seines Spielfilmformats erscheinen diese Bilder so realitätsnah, denn sie erinnern ebenso an Fotos aus Geschichtsbüchern wie an die Bilder aus den Medien von heute. Es gibt kein Durchatmen. Sogar das Durchbrechen der vierten Wand muss ertragen werden: Florja und Glascha – die Verkörperungen von Traumatisierung – blicken die Zuschauer*innen direkt an. Der Titel des Films ist (auch in seiner deutschen Übersetzung) nicht umsonst als Aufforderung an das Publikum formuliert, Zeugnis abzulegen.

Gefangene Zivilisten harren in einem Holzhaus aus.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

Neben den Bildern ist die akustische Ebene einnehmend. Das Rattern von Maschinengewehren, das Knistern von Feuer, ohrenbetäubende Bombenangriffe, die wir als Zuschauer*innen miterleben, indem wir mit Florja das Gehör verlieren und nur noch ein Tinnitus-Fiepen hören, bieten ein zusätzliches Element, das weit über eine Visualisierung hinausgeht. Das Miterleben steht im Mittelpunkt. Atonale Musik, klassische Stücke – sie werden kontrapunktisch eingesetzt, spielen mit den Erwartungen an den Film. Ungewöhnlich ist das Bildformat für eine so dramatische Erzählung: Mit einem Format von 1: 1,37 wirkt es verengt, verdeutlicht aber damit auch die Subjektivität des jungen Protagonisten. Dieses Vorgehen lässt den Film und dessen Inhalt aktuell oder gar zeitlos wirken. Und plötzlich reißt uns das Ende heraus aus den Spielfilmbildern, holt uns in die Wirklichkeit, konfrontiert uns mit Fakten: Klimov montiert fotografisches Archivmaterial aus dem Krieg – aber chronologisch rückwärts: Der Krieg, der Holocaust, uniformierte Menschenmassen, kriegerischer Jubel und Hitlers Kindheit. Damit wird die Frage nach der Vorhersehbarkeit geschichtlicher Ereignisse gestellt. Sie bleibt unbeantwortet.

Soldaten stecken mit Flammenwerfern Holzhäuser in Brand.

›Komm und sieh‹, UdSSR 1985, Regie: Elem Klimov, © 1985 Mosfilm

Regisseur Elem Klimov sagte Mitte der 1980er Jahre: »Man darf vor dem Schrecklichen nicht schamhaft die Augen niederschlagen... Deshalb müssen wir, solange die Welt von Brutalität und Gewalt noch nicht überschwemmt ist, die Filmkamera wie ein Skalpell benutzen, um die Gleichgültigkeit gegenüber Grausamkeiten und Abscheulichkeiten zu verhindern.« 

Die Weltlage hat uns überholt, Bilder von Brutalität und Gewalt sind in den Medien trauriger Alltag geworden. Gerade durch diese Flut an Bildern kann sich heute eine andere Art von Gleichgültigkeit einschleichen und das Skalpell der Filmkamera wird umso notwendiger.

Der Film fordert sein Publikum in einer Weise, die nicht erwartet wird. Dadurch wirkt er umso stärker. Dadurch rüttelt er auf. Der Film holt uns mit Bild und Ton, mit seiner ganzen Vereinnahmung in das Heute zurück.

 

Am Montag, 27. Februar 2023 um 19 Uhr wird ›Komm und sieh‹ im Rahmen von »ArchiVistas« im Kino Arsenal zu sehen sein. Weitere Informationen und Tickets gibt es hier.

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Jennifer Borrmann

Seit Ende der 1990er-Jahre arbeitete sie für verschiedene Kinos, u.a. als Vorführerin. Während ihres Studiums der Geschichte und Germanistik tauchte sie in die Welt der kommunalen Kinoarbeit, Filmgeschichte und -kritik ab. Heute archiviert und dokumentiert sie Filmmaterialien in der Deutschen Kinemathek, schreibt über Film und kuratiert Programme.

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